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Kommentar Europa darf auf Joe Biden hoffen

Es sieht nicht schlecht aus für den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten Joe Biden
Es sieht nicht schlecht aus für den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten Joe Biden
© IMAGO / ZUMA Wire
Nur abwarten auf das Ergebnis der US-Wahlen darf für Europa keine Option sein. Die politischen Entscheidungsträger sollten lieber die Voraussetzungen schaffen, um einem möglichen Präsident Biden die Rückkehr in die westliche Gemeinschaft zu ermöglichen

Normalerweise treffe ich keine Vorhersagen. Aber ab und zu ist es nützlich, sich einfach bessere Nachrichten vorzustellen. Blicken wir über den Sommer hinaus, erscheinen zwei Ereignisse am Horizont mit dem Potenzial, den Lauf der Dinge zu ändern. So sagen uns Wissenschaftler, dass ein Impfstoff und/oder eine Therapie gegen Covid-19 einen Ausweg aus der Pandemie aufzeigen könnte. Was die zweite Möglichkeit betrifft, so haben meine Freunde, die sich ebenso wie ich mit Außenpolitik beschäftigen, ein Schweigegelübde abgelegt. Sagen wir es also ganz leise: Die USA könnten einen neuen Präsidenten wählen.

Ein großer Teil der Welt arbeitet sich gerade aus den Coronavirus-Lockdowns heraus, aber die Erholung wird uneinheitlich und zögerlich bleiben, solange wir keine größere Gewissheit haben, dass Covid-19 dauerhaft besiegt werden kann. Gegenwärtig besteht die Gefahr, dass unsere Rückkehr zu einem vergleichsweisen normalen Leben im Herbst eine zweite Infektionswelle einläuten könnte. Epidemiologen halten das bis zu einem gewissen Grad für unvermeidlich. Es bleibt die Frage, wie große diese zweite Welle ausfallen wird. Solange diese Ungewissheit herrscht, wird sich die Wirtschaft mit großen Investitionen, die ein kräftiger Aufschwung erfordert, noch zurückhalten.

Entscheidend für einen nachhaltigen Aufschwung ist Vertrauen. Ein Impfstoff – oder die verlässliche Aussicht darauf, sagen wir in einem Jahr – würde künftige Risiken deutlich abschwächen und den Ausblick verändern. Eine Therapie, welche die Sterblichkeitsraten stark senkt, könnte ebenfalls den Weg dahin ebnen. Denn das düstere Bild, das derzeit von den meisten Ökonomen gezeichnet wird, beruht auf der Annahme, dass das Virus auf unbestimmte Zeit nicht wieder verschwindet. Mit der Aussicht auf eine vollständige Kontrolle würde der Wirtschaftsaufschwung wahrscheinlich viel deutlicher ausfallen als nach der Finanzkrise von 2008.

So bereitwillig Politiker und Entscheidungsträger außerhalb den USA über jeden Schritt zu einem Impfstoff spekulieren, so auffällig schweigen sie über das, was ohne die Pandemie zum geopolitischen Ereignis des Jahres 2020 hätte werden sollen. Außer einer Handvoll Autokraten stehen Freunde und Verbündete der USA größtenteils hinter dem Kandidaten der Demokraten Joe Biden. In Europa murmeln die Entscheidungsträger, ein erneuter Sieg von Donald Trump wäre eine Katastrophe für die demokratische Gemeinschaft der Nationen, also jene Gemeinschaft, die wir gemeinhin den Westen nennen. Aber die meisten von ihnen haben 2016 arg danebengelegen. Jetzt zu prophezeien, dass die US-Wähler Trump aus dem Amt jagen, hieße schlicht, das Schicksal herauszufordern.

Biden schätzt seine Bündnispartner

Doch die Umfragen weisen darauf hin, dass Biden mehr als eine Fifty-Fifty-Chance hat, ins Weiße Haus einzuziehen. Trump ist auf seine Basis reduziert, die Wirtschaft wird in den Monaten bis zur Wahl nur mit Mühe zu einem robusten Wachstum zurückfinden, und Covid-19 könnte durchaus noch viele weitere Todesopfer im Land fordern. Natürlich können die Umstände sich ändern, aber die reale Chance, dass Trump von einer Lawine wütender Tweets hinweggefegt wird, darf nicht leichtfertig ignoriert werden.

Sicherlich würde ein Sieg Bidens allein die Welt nicht verändern. Die intensive Rivalität zwischen den USA und China, die strategischer und wirtschaftlicher Natur ist, verschwindet nicht durch Wunschdenken. Der Nahe Osten ist weit vom Frieden entfernt. In Russland zeigt Wladimir Putin wenig Anzeichen, seinen Revanchismus aufgeben zu wollen. Die Lasten der Globalisierung und der Ungleichheit werden weiter den Populismus befeuern. Das multilaterale Institutionengefüge ist gerade in dem Moment aus dem Lot, wo es gebraucht wird, um der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel zu begegnen. Dies alles sind Probleme, die keine US-Führung lösen kann, und sei sie noch so wohlwollend.

Aber das ist egal. Nach Trumps Sprunghaftigkeit wäre bereits die bloße Tatsache ein Riesenfortschritt, dass ein US-Präsident wieder Bündnisse schätzt, die USA zum Pariser Klimaabkommen zurückführen würde und die offene, liberale Ordnung des Westens stärken will, statt sie kaputtzumachen. Es gäbe eine neue Chance, die an Trumps kriegerischem Unilateralismus bisher gescheitert ist. Und wenn die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist, dann spiegelt das in erheblichem Maße auch die Verachtung gegenüber dem Anführer der mächtigsten demokratischen Nation der Welt wider.

Was Europa tun kann

In dieser Zeit sollten Amerikas Freunde alles andere tun, als Däumchen drehen. Vielmehr sollten sie gründlich darüber nachdenken, wie sie sich als Partner aufstellen, wenn es darum geht, wieder ein regelbasiertes internationales System zu etablieren – eine Ordnung, die China und Russland höchstwahrscheinlich ablehnen würden, die aber unerlässlich dafür ist, die demokratischen Werte zu bewahren, von denen die Sicherheit und der Wohlstand des Westens abhängen.

Biden ist bekanntermaßen ein entschiedener Befürworter der Nato. Seine Wahl wäre der richtige Moment für die europäischen Bündnispartner, ihr Versprechen für höhere Beiträge einzulösen. Der Kandidat der Demokratischen Partei hat ebenfalls angedeutet, dass er das internationale Atomabkommen mit dem Iran retten möchte. Was also kann Europa dafür tun, dass auch Teheran dazu bereit wäre, den verständlichen Bedenken vieler Amerikaner Rechnung zu tragen?

Jenseits solch regionaler Belange haben die Regierungen in Europa gemeinsam mit Verbündeten wie Japan, Südkorea und Australien die Aufgabe, eine breit angelegte westliche Strategie gegenüber China zu entwerfen. Sie sollte die notwendige Zuwendung zu Peking mit der robusten Verteidigung westlicher Interessen und Werte verbinden. Trumps Übergriffe, Sanktionen und Drohungen haben den Europäern bislang den Vorwand geliefert, diesen schwierigen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen.

Die Zeit, als die Welt einen führenden Pol hatte – jene kurze Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, als es schien, als könnten die USA die Welt so gestalten, wie es ihnen gefällt – ist für immer vorbei. Aber Trumps Präsidentschaft hat uns vor Augen geführt, wie zerstörerisch der Rückzug Amerikas aus jeglicher internationalen Führungsrolle sein kann. Das Angebot, das die Verbündeten einem Präsidenten Biden machen, sollte auf Partnerschaft beruhen. Natürlich könnte Trump noch gewinnen. Aber in dem Fall sind alle Wetten aus.

Copyright The Financial Times Limited 2020

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