Gerade hatte die türkische Zentralbank zum ersten Mal seit 2019 eingegriffen, um den Sinkflug der Lira zu stoppen. Schon lässt Präsident Tayyip Erdogan den nächsten Kanonendonner los – und feuert den Finanzminister. Wieder gab die Landeswährung etwas nach. Aber der Abgang kam nicht überraschend.
Erdogan schließt damit eine personelle Neuaufstellung ab. Seit Mitte 2019 entließ er drei Gouverneure der Notenbank und tauschte im Oktober drei ihrer hochrangigen Vertreter hat. Auch Finanzminister Lutvi Elvan wird dem Lager zugerechnet, das Geld nicht weiter verbilligen will, um die Volkswirtschaft anzukurbeln. Er war der, von Industrievertretern geschätzte, letzte Verfechter dieser Linie in der politischen Führung, die lieber die galoppierende Inflation in den Griff bekommen wollte. Nun wurde Elvan das letzte Bauernopfer.
Immerhin 13 Monate hatte er sich auf dem Posten gehalten, nachdem er dem Erdogans Schwiegersohn nachgefolgt war. Berat Albayrak war 2020 nach den letzten Lira-Turbulenzen ersetzt worden, als schon einmal eine Währungskrise drohte, sich zu einer Banken- und internationalen Vertrauenskrise auszuweiten.
Nun hat die Zentralbank seit September auf Wunsch Erdogans dreimal den zentralen Leitzins gesenkt. Die Landeswährung verlor allein im November zum Dollar 27 Prozent. Seit Januar hat sie fast die Hälfte ihres Wertes eingebüßt. Nach einem Kursrutsch von sechs Prozent – Erdogan hatte am Dienstag die Hoffnung geäußert, dass die Zinsen bis zu den Wahlen 2023 weiter fallen –, intervenierte die Notenbank doch kurz am Devisenmarkt. Die Wirkung verpuffte schnell. Mit Vizefinanzminister Nureddin Nebati rückt ein Gefolgsmann des Präsidenten zum Kassenwart auf. Analysten erklärten, der Markt erwarte von der Politik eine straffende Hand.
Wenn dieser Tage die Geldentwertung für November bekannt gegeben wird, dürfte sie die kritische Marke von 20 Prozent überschreiten – eine der höchsten Inflationsraten der Welt – und viermal so hoch wie das offizielle Ziel der Notenbank. Weil die Wirtschaft stark von Einfuhren abhängig ist – von Energie über Rohstoffe bis hin zu Arzneimitteln und Teilen für die devisenbringende Autoindustrie –, sind die Lebenshaltungskosten in die Höhe geschossen. Entgegen jeder ökonomischen Lehre hält der Präsident daran fest, dass billige Kredite in dieser Lage ein Segen bleiben.
Spiel auf Risiko
Doch 18 Monate vor den nächsten Präsidentschaftswahlen ist Erdogan offensichtlich bereit, diesen Preis für eine vermeintlich starke Wirtschaft zu zahlen. Auch auf die Gefahr einer überhitzenden Wirtschaft hin. Im dritten Quartal legte das BIP um 7,4 Prozent zum Vorjahreszeitraum zu, wie die Behörden gerade mitteilten. Nach einem Sprung von 21 Prozent im zweiten Vierteljahr. Neben China ist die Türkei das einzige G20-Land, das 2020 die Rezession umschifft hat. Die Londoner EBRD erwartet für 2021 ein Wachstum von 9 Prozent und 3,5 Prozent für 2022.
Erdogan selbst beschreibt den Weg als „riskant aber richtig“ und bekräftigt seine negative Haltung zu (hohen) Zinsen. Selbst den Absturz der Lira und den Anstieg der Inflation tut er als normale Schwankungen ab. Während institutionelle Anleger dem Schwellenland wieder stärker den Rücken zukehren, sieht Tymothy Ash, Analyst bei Blue Bay Management und ein langjähriger Türkei-Beobachter, die Gefahr von Kapitalkontrollen heraufziehen. Die Risikoprämien auf türkische Staatsanleihen sind seit der Lockerung der Geldpolitik im September deutlich angestiegen.
Im Gegensatz zu vergangenen Krisen wies die türkische Handelsbilanz zuletzt sogar einen positiven Saldo auf. Allerdings verweisen Finanzmarktanalysten auf die Risiken einer hohen Auslandsverschuldung. Durch den deutlichen Abwertungsschub der Lira werde es sehr teuer, den in US-Dollar nominierten Teil zu refinanzieren: Wie es heißt, werden in den kommenden beiden Jahren Anleihen im Umfang von nahezu 50 Mrd. Dollar fällig.
Ideologischer Feldzug
Wie weit Erdogan mit seinem ideologischen Kurs gegen eine feindliche „Zinslobby“ gehen will oder kann, ist offen. Neuerdings spricht er von einem „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“. Aus Sicht der Opposition ist der nicht zu gewinnen. Sie setzt darauf, dass der Autokrat den Bogen überspannt und selbst seine treue Gefolgschaft unter dem Leidensdruck einer galoppierenden Geldentwertung von ihm abrückt. Steht seine islamisch-konservative Partei AKP doch für das Versprechen einer Ära von anhaltendem Wirtschaftswachstum, steigenden Einkommen und Arbeitsplätzen.
Ersteres hat Erdogan außer in Zeiten der globalen Finanzkrise immer noch retten können: in den frühen Jahren seiner Regierungszeit dank eines – von den Vorgängern geerbten – IWF-Programms. Später pumpte die Regierungspartei viel Staatsgeld in große Infrastruktur- und Bauprojekte und zog dafür auch reichlich Kapital aus befreundeten Golfstaaten an. Zuletzt profitierte die Wirtschaft von hohen Einnahmen aus Tourismus und Exporten. Allmählich könnten Erdogan jedoch die Trümpfe ausgehen.
Unter den Wählern wird, wer kann, weiter in den Dollar flüchten. Aber der Unmut in der Bevölkerung wächst. Vergangene Woche gingen Menschen sowohl in der Wirtschaftsmetropole Istanbul wie auch in der Hauptstadt Ankara gegen den Wirtschaftskurs Erdogans auf die Straße. Die größte Oppositionspartei will bei einer Kundgebung in der südtürkischen Stadt Mersin eine Kampagne für vorgezogene Neuwahlen starten.
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