Notfallpläne, Sparen, autofreie Sonntage – und derweil alternative Versorger suchen. Deutschland und Europa führen ein Rennen gegen die Zeit, um 46 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas zu ersetzen. Kurzfristig verschärft das eine schon angespannte Lage auf dem Weltmarkt. Das Angebot ist knapp, die Preise hoch. Global wird in diesem Jahr daher schon weniger konsumiert, und auch mittelfristig wird die Nachfrage um weniger als ein Prozent jährlich steigen, korrigierte die Internationale Energieagentur (IEA) jüngst ihre Prognose bis 2025.
Eigentlich gute Vorzeichen für Länder, die wie Deutschland auf internationaler Shoppingtour sind, um sich aus der Abhängigkeit von russischem Erdgas zu lösen. So heftig dürfte die Konkurrenz um den Brennstoff über Pipelinetrassen oder in Flüssigform auf gigantischen Tankern der Weltmeere also nicht sein. Doch der Gasmarkt folgt seinen eigenen Regeln.
Zum einen knebeln ihn langfristige Abnahmeverträge – im Fall von Katar sind das etwa 80 Prozent. Nur auf solcher Grundlage fließen perspektivisch hohe Investitionen in die Förderung, beziehungsweise deren Ausbau. Der Kuchen ist also absehbar weitgehend verteilt. Zum anderen richten die Produktionsländer ihre Kapazitäten mittelfristig daran aus, wie sich der globale Verbrauch erwartbar entwickelt. Wenn dieser sinkt, oder stagniert, ist das in Zeiten unwägbarer Energiewenden eine Gleichung mit vielen Unbekannten – auch mit Erdgas als Brücke aus dem fossilen Zeitalter heraus.
Da es also in kurzer Zeit nicht so einfach ist, neue Liefermengen für den Einkaufskorb abzuzweigen, erscheint ein Blick auf mögliche Wachstumsmärkte also um so wichtiger. Als weltweiter Watchdog der Energiemärkte hat die IEA auch hier ein Prognose: Sie erwartet eine zwar begrenzte, aber verlässliche Steigerung der Erdgasförderung in ihrem Gasbericht für das dritte Quartal 2022. Geografisch einzuordnen ist sie 2021-2025 vor allem in Nordamerika, Nahost und moderat auch in Afrika, während in Europa jährlich knapp 1,5 Prozent weniger produziert wird – mit einer Ausnahme.
Hier sind einige Länder, die ihre Gasförderung in den nächsten Jahren belastbar steigern werden:

Lange war es für Ankara eine Hängepartie, welche Schätze das türkische Bohrschiff Fatih im Schwarzen Meer ausfindig machen würde. Wie Präsident Recep Tayyip Erdogan nun jüngst verkündete, berge das im türkischen Hoheitsgebiet explorierte Gasfeld 540 Milliarden Kubikmeter. Geostrategisch ist das ein neuer Trumpf. Bislang hat sich die Türkei als wichtiges Transitland für kaspisches und russisches Gas positioniert. Zwischenzeitig gab es umstrittene Ansprüche auf Gasvorkommen nahe Zypern. Ab 2023 gehört das Land nun zur Liga der Förderländer: von anfangs 10 Millionen Kubikmetern/Tag soll die Produktion aus dem Sakaryia-Feld bis 2028 vervierfacht werden. Ein Gutteil davon soll Importe ersetzen. Erdogan sieht die Türkei strategisch aber künftig als Exportland.

Auch Rumänien ist dank der im Schwarzen Meer entdeckten Vorkommen eine Ausnahme in Europa – wo anderswo Fördermengen stagnieren oder zurückgehen. Erst im Juni erklärte Ministerpräsident Nicolae Ciuca den Start der Gasförderung in Vadu für historisch. Die Vorkommen würden dazu beitragen, das Land in der Gasversorgung zu 90 Prozent autark zu machen. Entwickelt wird das Projekt von einem Unternehmen der Investmentfirma Carlyle International und der Osteuropabank (EBRD) in den Gasfeldern Ana und Doina. Eine 126 Kilometer lange Pipeline verbindet die Offshore-Plattform mit einer Gasaufbereitungsanlage an Land. In diesem Jahr wird eine Förderung von etwa 500 Millionen Kubikmeter erwartet, die Spitzenproduktion in den Folgejahren soll jährlich etwa eine Milliarde Kubikmeter erreichen.

Proteste und ein jahrelanger Rechtsstreit haben den auf dem Höhepunkt der Schiefergasförderung geplanten Bau der Atlantic Coast Pipeline ausgebremst. Die Gasröhre von West Virginia nach North Carolina sollte mit einer Kapazität von 42 Millionen Kubikmeter pro Tag den Export von verflüssigtem Gas (LNG) von der Ostküste beflügeln. Dazu kam es nicht. Inzwischen fordert die US-Industrie wieder LNG-Terminals im Nordosten des Landes, zumal auch die EU langfristige Abnahmegarantien für LNG abgegeben hat, um unabhängig von Russland zu werden. 50 Milliarden Kubikmeter jährlich will Europa abnehmen. Exportkapazitäten zu erhöhen, ist langwierig und kostenintensiv. Die IEA sieht in den USA aber den Haupttreiber für die globale Produktionssteigerung: von einem erwarteten Plus von 85 Milliarden Kubikmeter 2021-25 werde Nordamerika (einschl. Kanada) über die Hälfte stellen. Die Mengenprognose 2025 liegt bei 1.055 Milliarden Kubikmeter.

Erst war Wirtschaftsminister Robert Habeck am Golf vorstellig, dann empfing Bundeskanzler Olaf Scholz Emir Tamim bin Hamad al Thani in Berlin. Ihr gemeinsames Ziel: ein Deal mit Katar für die Lieferung von verflüssigtem Erdgas (LNG). Vorläufig gibt es eine Absichtserklärung für eine Energiepartnerschaft. Auch die Kooperation bei grünem Wasserstoff, der mit Strom aus erneuerbaren Quellen gewonnen wird, ist beabsichtigt. Das Emirat zeigt Ehrgeiz: Als erstes ausländisches Unternehmen beteiligt es neuerdings die französische TotalEnergies an einer Verflüssigungs- und Reinigungsanlage. Eine Erweiterung um vier solche Anlagen soll die Erdgasförderung und Exportkapazität bis 2027 um 60 Prozent steigern. Die IEA erwartet höhere Fördermengen auch am Feld Barzan, das QatarEnergy gemeinsam mit ExxonMobil ausbeutet.

Als Region wird der Mittlere Osten seine Gasproduktion bis 2025 um zehn Prozent steigern, erwartet die IEA. Das Königreich Saudi-Arabien strebt an, durch Erschließung der Schiefergasvorkommen Jafurah zu einem international führenden Gasproduzenten aufzusteigen. Binnen zehn Jahren sollen in das Jafurah-Projekt 68 Mrd. Dollar investiert werden, darunter in die Anlagen von Hawiyah (im Bild) und Haradh. Ende 2021 gab der Energieriese Aramco bekannt, Aufträge im Wert von 10 Mrd. Dollar vergeben zu haben. Ein Auftragnehmer ist auch die China Petroleum Pipeline Engineering. Bereits 2025 sollen 5,7 Millionen Kubikmeter/Tag gefördert werden, meldet Germany Trade and Invest (GTAI), bis 2030 sei eine Verzehnfachung geplant. Auch die Nutzung zur Produktion von grauem oder blauem Wasserstoff ist geplant, aber weniger ambitioniert als in Katar.

Die israelische Erdgasplattform Leviathan ragt vor der Küste von Haifa in den Himmel. Auf dem größten israelischen Feld wird seit 2019 gefördert. 2022 sollen mit dem britischen Betreiber Energean die zwei kleineren Felder Karish und Tanin die Förderung starten. Die nachgewiesenen israelischen Erdgasvorkommen werden mit 850 Milliarden Kubikmeter beziffert. Allerdings werden in den Wirtschaftsgewässern weitere Vorkommen vermutet, nach denen auch gesucht wird. Seit kurzem ist offiziell, dass Israel auch die Europäische Union mit Gas beliefern wird. Es wurde in einer Absichtserklärung vereinbart, dass der Brennstoff über eine Pipeline nach Ägypten gepumpt und von dort über Verflüssigungsanlagen nach Europa verschifft wird. Die Förderung an Vorkommen im östlichen Mittelmeer (Eastmed) würde weitergehende energiepolitische Abnahmeentscheidungen voraussetzen.

Das Gasfeld South Pars am Persischen Golf ist das größte der Welt und geteilt zwischen Iran und Katar. Die Islamische Republik beansprucht für sich die weltweit größten Erdgasvorkommen und eine Kapazität von einer Milliarde Kubikmeter pro Tag. Irans Gasausfuhren sind aber noch relativ gering. Dank zugesagter Auslandsinvestitionen – vor allem jüngst aus Moskau – soll die Förderung über den nächsten Achtjahresplan um 50 Prozent gesteigert werden. Branchenkenner erwarten in Übereinstimmung mit den Prognosen der IEA in South Pars bis 2025 mehrere Projekte zur Verarbeitung und Lagerung von Erdgas. Der russische Konzern Gazprom hat mit dem Regime in Teheran vereinbart, auch das Gasfeld North Pars weiterzuentwickeln. Nach einer Lockerung der US-Sanktionen könnten theoretisch auch westliche Partner den Ausbau von Förderkapazitäten beschleunigen und Jahrzehnte alte Pläne zum Aufbau von LNG-Exportkapazitäten wiederbeleben.

Die Volksrepublik will erklärtermaßen mehr russisches Erdgas abnehmen, wie hier am Terminal des chinesischen Konzerns Sinopec in Tianjin, wo ein russischer LNG-Tanker festgemacht hat. Zugleich wird im Zuge des Pekinger Strebens nach Autonomie in allen Bereichen auch die heimische Erdgasproduktion auf neue Rekorde hochgefahren – als Brücke von Kohle- und Ölkraftwerken zu erneuerbaren Energiequellen. Laut einem Bericht des CNOOC Energy Economics Institutes war China 2021 in der Energieversorgung bereits zu 80 Prozent autark. Die IEA erwartet in der Region Asien-Pazifik vier Prozent mehr Produktion 2021-25, mit China als größtem Wachstumsmarkt: plus 12 Prozent oder 25 Milliarden Kubikmeter auf eine Fördermenge von 230 Milliarden Kubikmeter bis 2025.

Argentinien hat die Förderung von Erdgas in der Provinz Neuquen in der Ebene Patagoniens 2022 auf Rekordhöhen getrieben. Das tut der Staatskasse gut. Die hochverschuldete drittgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas muss dann weniger Energie importieren. Mittelfristig sollen Exporte höhere Devisenerlöse bringen. Insbesondere der Bau einer neuen Pipeline von der Förderung in Vaca Muerta soll die stockende Vermarktung auf Trab bringen. Dank der Röhre nach Buenos Aires, die schon 2023 fertig sein soll, werden bereits in der Anfangsphase 30 Prozent mehr abfließen als über Land in Tankwägen. Die IEA rechnet Argentinien vor Peru zu den Ländern mit einem mäßigen Wachstumspotenzial und sagt ein Plus von 3,6 Prozent jährlich in der Förderung bis 2025 voraus. Die Schieferformation von Vaca Muerta gilt weltweit als die zweitgrößte, was das Potenzial für Erdgas betrifft.

Auf dem Nachbarkontinent liegt für die Versorgung Europas mit Erdgas der nahe Norden nahe – vor allem das Förderland Algerien. Doch die Märkte dort flachen ab, befindet die IEA. Auch im Hoffnungsmarkt Algerien. In Afrika insgesamt ist der IEA zufolge bis 2025 ein weit geringeres Förderwachstum absehbar als noch vor der Corona-Pandemie: um jährlich durchschnittlich 2,7 Prozent auf insgesamt 290 Milliarden Kubikmeter 2025. Das bescheidene Wachstum werde sich zu etwa gleichen Teilen auf den Binnenkonsum und den Export verteilen. Die IEA empfiehlt dem Kontinent, für seine Versorgung auf erneuerbare Energien zu setzen. Mit Investitionen von 25 Mrd. Dollar pro Jahr könne so jeder Afrikaner bis Ende des Jahrzehnts Zugang zu Strom haben – soviel wie die Baukosten eines LNG-Terminals pro Jahr. Wohl könnte der Kontinent aus rund 5.000 Milliarden Kubikmeter bekannten, aber noch nicht entwickelten Gasvorkommen bis 2030 zusätzliche 90 Milliarden Kubikmeter jährlich fördern – er sollte es jedoch vorwiegend für die heimische Herstellung von Düngemitteln, Stahl, Zement und für die Meerwasserentsalzung verwenden.