Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Warwick.
Jeder wirtschaftliche Zusammenbruch zieht die Forderung nach einem Schuldenerlass nach sich. Die zur Rückzahlung von Krediten benötigten Einnahmen sind verschwunden, und die als Sicherheiten hinterlegten Vermögenswerte haben an Wert verloren. Die Gläubiger verlangen ihr Pfund Fleisch; die Schuldner fordern lautstark Entlastung.
Man betrachte etwa die aus der Occupy-Bewegung hervorgegangene Organisation Strike Debt, nach eigener Beschreibung „eine landesweite Bewegung von Schuldenverweigerern, die für wirtschaftliche Gerechtigkeit und demokratische Freiheit kämpft“. Auf ihrer Website argumentiert sie, dass die Menschen „angesichts stagnierender Löhne, struktureller Arbeitslosigkeit und Einschnitten bei den öffentlichen Dienstleistungen“ gezwungen werden, sich zu verschulden, um grundlegende Lebensnotwendigkeiten zu erwerben, was dazu führt, dass sie „ihre Zukunft den Banken preisgeben“.
Eine der Initiativen von Strike Debt, das sogenannte „Rolling Jubilee“, sammelt Geld, um Schulden aufzukaufen und zu vergeben – ein Prozess, den die Organisation als „kollektive Verweigerung“ bezeichnet. Die Fortschritte der Gruppe sind beeindruckend; sie hat bereits mehr als 700.000 US-Dollar aufgebracht und damit Schulden im Wert von fast 18,6 Mio. Dollar getilgt.
Es ist die Existenz eines Sekundärmarktes für Schulden, der Rolling Jubilee in die Lage versetzt, Schulden so billig aufzukaufen. Finanzinstitute, die nicht mehr von der Fähigkeit ihrer Schuldner zur Schuldentilgung überzeugt sind, verkaufen diese Schulden mit großem Abschlag an Dritte, häufig für bloße fünf Prozent ihres Nennwertes. Die Käufer versuchen dann einen Gewinn zu erzielen, indem sie die Schulden ganz oder teilweise bei den Schuldnern eintreiben. Der US-amerikanische Anbieter von Studentenkrediten Sallie Mae hat zugegeben, umgeschichtete Schulden für nur 15 Prozent ihres Nennwertes zu verkaufen.
Unterschied zwischen öffentlich und privat verschwimmt
Um die Aufmerksamkeit auf die häufig schändlichen Praktiken der Schuldeneintreiber zu lenken, hat Rolling Jubilee kürzlich die Studentenkredite von 2761 Studenten des Everest College vergeben. Everest College ist ein gewinnorientiertes Bildungsinstitut, dessen Muttergesellschaft Corinthian Colleges von der US-Regierung gegenwärtig wegen unlauterer Kreditvergaben verklagt wird. Das Kreditportfolio des Everest College war mit knapp 3,9 Mio. Dollar bewertet; Rolling Jubilee kaufte es für 106.709,48 Dollar, das sind knapp drei Prozent des Nennwertes.
Das jedoch ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Allein in den USA sind die Studenten mit mehr als einer Billion US-Dollar verschuldet, was rund sechs Prozent des BIP entspricht. Und sie sind nur eine von vielen derart verschuldeten gesellschaftlichen Gruppen.
Tatsächlich hat der wirtschaftliche Abschwung der Jahre 2008-2009 die private und öffentliche Schuldenlast gleichermaßen ansteigen lassen – und zwar so sehr, dass die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat inzwischen verschwimmt. In einer Rede in Chicago erklärte der irische Präsident Michael D. Higgins kürzlich, wie aus privaten Schulden staatliche Schulden wurden: „Wegen der Notwendigkeit, zur Finanzierung der laufenden Kosten Kredite aufzunehmen, und vor allem aufgrund der Globalgarantie auf Vermögen und Schulden der wichtigsten irischen Banken, ist Irlands Staatsverschuldung von 25 Prozent des BIP im Jahr 2007 auf 124 Prozent im Jahr 2013 gestiegen.“
Ziel der irischen Regierung war natürlich die Rettung des Bankensystems. Doch als unbeabsichtigte Folge der Rettungsaktion wurde das Vertrauens in die Solvenz der Regierung erschüttert. In der Eurozone mussten Irland, Griechenland, Portugal und Zypern ihre Staatsschulden umstrukturieren, um einen offenen Zahlungsausfall zu vermeiden. Die steigenden Schuldenquoten überschatteten die Haushaltspolitik und entwickelten sich zur hauptsächlichen Begründung für die die Wirtschaftskrise verlängernde Austeriätspolitik.
Kampf um die Moral
Das ist alles nichts Neues. Konflikte zwischen Gläubigern und Schuldnern sind seit babylonischen Zeiten Gegenstand der Politik. Die Orthodoxie hat zu allen Zeiten die heiligen Rechte der Gläubiger hochgehalten; politische Notwendigkeit erforderte häufig eine Entlastung der Schuldner. Welche Seite gewinnt, hängt vom Umfang der Not der Schuldner und der Stärke der sich jeweils bekämpfenden Gläubiger- und Schuldnerkoalitionen ab.
Geistiges Zahlungsmittel in diesen Konflikten war immer die Moral. Die Gläubiger, die ihr Recht auf vollständige Rückzahlung geltend machen, haben traditionell so viele rechtliche und politische Hürden wie möglich für Zahlungsausfälle aufgebaut und beharren auf harten Sanktionen – Einkommenspfändungen etwa und im Extremfall Inhaftierung oder sogar Sklaverei –, wenn Kreditnehmer ihren Schuldverpflichtungen nicht nachkommen. Von Regierungen, die sich im Rahmen kostspieliger Kriege verschuldet hatten, wurde erwartet, dass sie jährliche Tilgungsfonds zur Rückzahlung einrichteten.
Allerdings war die Moral nicht völlig auf Seite der Gläubiger. Im Griechischen des Neuen Testaments bedeutet Verschuldung „Sünde“. Doch obwohl es eine Sünde sein mag, sich zu verschulden, unterstützt Matthäus 6,12 eine Absolution: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Der weit verbreitete gesellschaftliche Widerstand gegenüber den Ansprüchen der Gläubiger auf das Eigentum der Schuldner bei Nichtzahlung hat dazu geführt, dass Zwangsvollstreckungen selten ins Extrem geführt werden.
Schuldenerlass hat Tradition
Die Stellung der Schuldner wurde darüber hinaus durch das Verbot des Wuchers – der Berechnung ungerechtfertigt hoher Zinsen – gestärkt. Der gesetzliche Höchstzins wurde in Großbritannien erst 1835 abgeschafft; die seit 2009 vorherrschenden, von der Zentralbank erhobenen Zinsen in Nähe des Nullpunktes sind ein aktuelles Beispiel für Bemühungen zum Schutz der Kreditnehmer.
In Wahrheit kennt, wie David Graeber in seinem majestätischen „Debt: The First 5000 Years“ darlegt, die Beziehung zwischen Gläubigern und Schuldnern kein ehernes moralisches Gesetz; vielmehr handelt es sich um eine gesellschaftliche Beziehung, die immer verhandelt werden muss. Wo quantitative Präzision und ein kompromissloser Ansatz in Bezug auf schuldnerische Verpflichtungen die Regel sind, folgen rasch Konflikte und Not.
In dem Bemühen, periodische Schuldenkrisen einzudämmen, führten traditionelle Gesellschaften Bestimmungen über eine allgemeine Schuldenvergebung ein, mit der zeremoniell ein Neuanfang eingeleitet wurde. „Die Bestimmungen zur allgemeinen Schuldenvergebung“, so Graeber, „sahen vor, dass im ‚Sabbatjahr‘ (also nach sieben Jahren) alle Schulden automatisch vergeben und alle, die aufgrund derartiger Schulden in Knechtschaft lebten, freigelassen werden sollten.“ Das Rolling Jubilee ist eine zeitgemäße Erinnerung an die fortdauernde Relevanz eines der ältesten Gesetze des gesellschaftlichen Lebens.
Die Moral von der Geschichte läuft nicht auf die Ermahnung des Polonius an seinen Sohn Laertes – „Kein Borger sei und auch Verleiher nicht“ – hinaus. Ohne beides würden die Menschen möglicherweise immer noch in Höhlen leben. Vielmehr müssen wir die Nachfrage nach und das Angebot von Krediten auf das beschränken, was die Volkswirtschaft produzieren kann. Wie man das tut und dabei die unternehmerische Freiheit wahrt, ist eine der großen ungelösten volkswirtschaftlichen Fragen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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