Bisher hat sich die EU von den innerbritischen Brexit-Erschütterungen ferngehalten – aus gutem Grund. Es ist für einen Kontinentaleuropäer einfacher, Kricketregeln zu erlernen, als das Unterhaus und die Rolle des Parlamentspräsidenten zu verstehen.
Ich appelliere nun aber an die EU, ihre Position zu überdenken und sich aktiv in die britische Debatte einzumischen, damit sich die Waage der Möglichkeiten in Richtung des von Theresa May vorgeschlagenen Austrittsabkommens neigt. Der Europäische Rat sollte zwei entsprechende Erklärungen abgeben, am besten so schnell wie möglich. In der ersten sollte die EU ihre Bereitschaft bekunden, die politische Erklärung zum Austrittsabkommen neu zu verhandeln. Ziel wäre es, bei den Verhandlungen über die künftigen Beziehungen andere Möglichkeiten ins Spiel zu bringen. Dazu könnte beispielsweise die Option Norwegen (Beitritt zur Europäischen Freihandelszone) oder die Option Zollunion gehören. Bei der zweiten Erklärung geht es um eine politische Entscheidung, mit der eine Verlängerung der Brexit-Frist am 29. März ausgeschlossen würde, es sei denn, es würde mehr Zeit für die Ratifizierung benötigt.
Zusammengenommen würden auch diese beiden Erklärungen der britischen Premierministerin bei der geplanten Abstimmung am Dienstag nicht zu einer Mehrheit verhelfen. Aber ein Zeitfenster ginge auf für ein optimiertes Brexit-Abkommen, das später verabschiedet werden könnte.
Drei Optionen sind eine zu viel
Wenn die EU ein zweites Referendum formal ausschließt, weil sie keine Zeit für die Durchführung einräumt, gäbe es nur noch die Wahlmöglichkeit zwischen Deal und No-Deal. Derzeit stehen die britischen Abgeordneten vor einer Drei-Optionen-Wahl - zwischen Deal, No-Deal und kein Brexit. Entscheidungen zwischen drei Optionen sind schwierig. May wollte mit ihrer Taktik Remainer und Brexiters Angst einjagen, damit sie ihren Deal unterstützen. Aber dieser Trick hat nicht funktioniert. Viele Brexit-Gegner glauben, dass es gute Chancen auf ein zweites Referendum gibt. Und es gibt Brexiter, die jetzt denken, dass sie einen Brexit ohne Deal bekommen werden. Beides kann nicht richtig sein.
Premierministerin May und die EU werden den von ihnen ausgehandelten Deal nur durch das Unterhaus bekommen, wenn eine Abkehr vom Brexit ausgeschlossen ist. Dies mag zunächst kontraintuitiv klingen. Aber es ist logisch in einer Situation, in der eine Mehrheit der Abgeordneten gegen einen No-Deal ist. Wenn sich die Abgeordneten mehrheitlich gegen einen No-Deal aussprechen und die EU die Abkehr vom Brexit vom Tisch nimmt, dann haben Sie – voilà – als einzige Möglichkeit einen Deal.
Natürlich kann die EU einen britischen Rückzieher nicht ausschließen, wenn er vor dem 29. März erfolgt. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass das Vereinigte Königreich Artikel 50 einseitig widerrufen kann. Das Urteil hat jedoch keine Auswirkungen auf einen EU-Beschluss zur Fristverlängerung – die für ein zweites Referendum erforderlich wäre. In der Kontrolle über den Zeitplan liegt die Macht der EU.
Vier Risiken für die EU
Die EU hat ein überwältigendes Interesse daran, dass das ausgehandelte Abkommen verabschiedet wird. Zwei Jahre lang haben die Verhandlungsführer der EU die Einzelheiten eines Abkommens ausgearbeitet, das eine harte Grenze in Irland vermeidet, die Rechte der EU-Bürger im Vereinigten Königreich und der britischen Bürger in der EU sicherstellt und das die finanziellen Verpflichtungen in angemessener Weise regelt.
Während eine Brexit-Abkehr für die EU einige oberflächliche Vorteile bietet, brächte das dann anstehende Referendum mindestens vier große Risiken mit sich, die alle vermieden werden könnten, wenn ein Abkommen zustande käme.
Das erste Risiko ist, dass ein zweites Referendum den Brexit bestätigt. Umfragen zeigen eine geringe Mehrheit für Remain, aber der Vorsprung ist knapp. Und die aktuelle Debatte legt nahe, dass die Remain-Seite keine Lehren aus der gescheiterten, angstbasierten Kampagne von 2016 gezogen hat. Ich bin immer wieder erstaunt über ihre chronische Unfähigkeit, einen positiven Standpunkt zu vertreten. Aus der Sicht eines Risikomanagers sollte die EU das Ergebnis des zweiten Referendums als Münzwurf betrachten. Sie muss den Imageschaden bedenken, sollte das Vereinigte Königreich zweimal für den Brexit stimmen.
Das zweite Risiko besteht darin, dass sich die EU ungewollt einer Vorgehensweise anschließt, die viele Menschen – nicht nur im Vereinigten Königreich – für antidemokratisch halten. Häufig wird gesagt, dass Demokratien ihre Meinung ändern. Das ist natürlich richtig. Aber normalerweise vereiteln Demokratien nicht das Ergebnis einer Abstimmung, bevor sie in Kraft tritt. Du hältst eine Wahl, und ein paar Jahre später hältst du wieder eine. Eine demokratische Entscheidung ist zeitlich befristet, wird aber nicht rückgängig gemacht. Die EU sähe sich mit einer massiven politischen Gegenreaktion konfrontiert, wenn sie sich hinter eine Position stellen würde, die viele Menschen für zutiefst anstößig halten.
Alternativen ausschließen
Das dritte Risiko ergäbe sich aus einem engen, unklaren oder umstrittenen Remain-Sieg. Großbritannien müsste dann an den Europawahlen im Mai teilnehmen und eine große euroskeptische Gruppe von Abgeordneten nach Brüssel entsenden. Sie würden am Ende den radikalen Rand stärken.
Das vierte Risiko ist ein Déjà-vu – alles auf Anfang. Falls, oder besser gesagt, wenn eine Pro-Brexit-Partei an die Macht kommt, wird sie sofort einen neuen Brexit-Anlauf nehmen, möglicherweise sogar ohne Referendum. In diesem Fall könnte sich die EU fragen, ob sie den gesamten Prozess ein zweites Mal durchlaufen will.
Ich kann mir keine Widerrufsszenarien vorstellen - außer einem einseitigen Widerruf vor dem 29. März -, die den Interessen der EU nicht schaden würden. Deshalb sollte sich die EU für das zweitbeste Ergebnis entscheiden: Ihre Befugnisse gemäß Artikel 50 des Vertrags von Lissabon nutzen und Alternativen ausschließen. Es wird Zeit, den Stecker zu ziehen.
Copyright The Financial Times Ltd. 2019