Vor Kurzem hatte ich ein echtes Aha-Erlebnis: Als eines unserer Kinder die Tage beim Kinderarzt ein Rezept erhielt, mussten wir noch mal die Versichertenkarte vorlegen. Es gebe ja jetzt das E-Rezept, erklärte uns die Mitarbeiterin hinterm Tresen und steckte die Karte in das kleine Lesegerät. Damit sollten wir zur Apotheke gehen, dort werde das Rezept ausgelesen, und dann sei alles wie gehabt. So geschah es dann auch.
Ich konnte es kaum glauben: Als ich vor mehr als 21 Jahren in Berlin begann, als Journalist zu arbeiten, war eines meiner ersten großen Themen die Gesundheitspolitik. Die zuständige Ministerin hieß damals Ulla Schmidt, kam von der SPD, hatte einen lustigen Singsang in der Stimme und ein großes Anliegen: die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Ein kleines Stück Plastik sollte künftig als Visitenkarte für jeden Patienten dienen – und als Speicherort für Rezepte und idealerweise auch die ganze Krankenhistorie. Geplante Einführung: 1. Januar 2006.
Irgendwann wechselte ich die Themen und verfolgte die elektronische Gesundheitskarte nur noch aus dem Augenwinkel. Manchmal musste ich schmunzeln, wenn es mal wieder irgendwo hieß, eine neue Bundesregierung habe sich die Digitalisierung des Gesundheitswesens vorgenommen – jetzt aber wirklich! Und dann passierte wieder nichts. Bis eben Anfang dieses Jahres – zack, ist es da, das E-Rezept. Nach 21 Jahren.
Weckruf aus Walldorf
Wie es anders geht (und gehen muss), zeigte diese Woche der deutsche Softwarekonzern SAP. Gut 2 Mrd. Euro will er investieren, um Anwendungen der künstlichen Intelligenz über den gesamten Konzern auszurollen – sowohl in den eigenen Produkten als auch im eigenen Unternehmen. 8000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen gehen oder umgeschult werden – etwas mehr als ein Jahr, nachdem ein gewisser Sam Altman mit seinem Unternehmen OpenAI die erste breite KI-Anwendung der Öffentlichkeit vorstellte.
Wie genau die SAP-Pläne zum Stellenabbau mit der künstlichen Intelligenz zusammenhängen, haben meine Kollegen Hannah Schwär und Niklas Wirminghaus analysiert. Und man muss sagen, dass SAP damit keinesfalls zu den Pionieren zählt, im Gegenteil. US-Konzerne wie Microsoft, Alphabet, Amazon und Meta sind um Jahre weiter.
Dennoch überrollte die Nachricht aus Walldorf das Land und die Märkte. Die Aktie sprang um acht Prozent nach oben. Viele dachten wohl bis dahin: Künstliche Intelligenz, ja klar, das ist doch das aus dem Internet und aus diesen Studien, wonach sie angeblich Millionen Jobs bedroht – aber das ist doch noch so weit weg. Dass die KI bei SAP unterm Strich gar keine Jobs kostet, sondern vielmehr neue Qualifikationen erfordert und dass der Konzern im Gegenzug genauso viele neue Jobs schaffen will, ging im allgemeinen Geraune schon wieder unter.
Deutschland wird abgehängt
Vielleicht sollten wir zum Ende dieser Woche des Stillstands, in der ein Streik einen dysfunktionalen Konzern und das halbe Land lahmlegte, die Zwangspause nutzen, um über zwei Begriffe nachzudenken: Prioritäten und Tempo. Jeder spürt ja, dass wir seit Jahren in Deutschland viel zu viel Kraft auf Dinge verwenden, die eigentlich doch offensichtlich sind – und viel zu wenig Kraft und Zeit für die wirklich wichtigen Dinge übrig bleiben. Der Streik der 26.000 Lokführer, die sich in der GDL organisiert haben, ist dafür ein hervorragendes Beispiel: Natürlich ließe sich mit etwas gutem Willen ein Kompromiss finden zwischen den Forderungen der Lokführer und dem Angebot des Bahn-Konzerns – um sich dann umso schneller der viel wichtigeren Sanierung des Konzerns zuzuwenden. Aber stattdessen halten beide Seiten das ganze Land mit Bockigkeit und Ritualen auf.
Anderes Beispiel: Das Bundeswirtschaftsministerium deutete in dieser Woche an, dass es nach Jahren des Zögerns und Abwägens bald fertig sei mit jener Energie- und Kraftwerksstrategie, auf die die Energiekonzerne seit Langem warten, weil sie endlich mit dem Bau neuer Kraftwerke loslegen wollen und dafür Planungssicherheit einfordern. Ich traf währenddessen einen Manager aus der europäischen Solarindustrie. Der berichtete von den immensen Fortschritten der Industrie, vom Preisverfall für Solarmodule, dem gigantischen Zubau an Solarenergie überall auf der Welt, und davon, dass auch die Speicher immer günstiger würden. In wenigen Jahren werde fast jedes Haus eine eigene Batterie besitzen, in der man den überschüssigen Solarstrom für die Nacht speichern könne. Der Ausbau der großen Netze sei dann ebenso obsolet wie der geplante Bau von bis zu 50 neuen Reservekraftwerken, weil sich die Stromversorgung mit dem Boom der Sonnenenergie weitgehend dezentral organisieren lasse. Der Manager beugte sich vor und grinste: „Wissen Sie was?“, sagte er, „wir werden das Klimaproblem lösen. Die Welt wird es lösen. Aber ohne Deutschland.“
Man muss nicht alles davon übernehmen, auch die technischen Tücken des Solarbooms sind nicht einfach. Aber was mir in diesem Gespräch noch mal klar wurde: Wir sind in Deutschland so oft gefangen in den Debatten von gestern und vorgestern – und verpassen dabei, was sich alles um uns herum tut und wie schnell sich die Welt wandelt.
Wir brauchen Lösungen
Dank der streikenden Lokführer hatte ich dieser Tage noch ein Aha-Erlebnis, zugegebenermaßen ein halbes Jahr zu spät: Am Flughafen München legen inzwischen drei bis vier Passagiere gleichzeitig ihre Sachen zum Sicherheitscheck in die großen Schalen. Der ganze Prozess ist dadurch deutlich schneller. Ähnlich ist die Lage am Flughafen Frankfurt, auch dort habe ich in letzter Zeit keine langen Warteschlangen mehr erlebt. In Berlin hingegen darf weiterhin immer nur ein Passagier ans Band treten und seine Taschen entleeren. Nicht selten ziehen sich die Warteschlangen für die Sicherheitskontrolle immer noch quer durch das ganze Terminalgebäude.
Nichts gegen die Leistungen von Designern, Innenarchitekten und Handwerkern, aber so eine Innovation ist keine Raketenwissenschaft. Man braucht nicht einmal die künstliche Intelligenz dafür. Warum wird das Prinzip also nicht gleich überall und flächendeckend eingeführt (ebenso wie die neuen Röntgengeräte in München und Frankfurt, bei denen Laptops und Flüssigkeiten einfach in der Tasche bleiben können)? Bestimmt gibt es dafür 17 höchst komplexe Begründungen. Sie passen nur leider alle nicht mehr in die Zeit.