Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ist eine unbekannte Macht: 1930 gegründet um die Reparationen des Deutschen Reichs abzuwickeln, ist die Baseler Institution heute die Dachorganisation der Zentralbanken. Einer ihrer einflussreichsten Köpfe ist Claudio Borio , er leitet die Währungs- und Wirtschaftsabteilung der BIZ und ist damit quasi ihr Chefökonom.
Capital: Herr Borio, Sie haben als einer der wenigen die große Finanzkrise von 2008 vorausgesehen. Welche Probleme hat die Weltwirtschaft heute?
CLAUDIO BORIO: Es ist eine Ironie, dass hohe Schulden ein zentrales Element der Großen Finanzkrise waren – und wir heute mehr Schulden als damals haben. Die Verbindlichkeiten der Haushalte, Staaten und Unternehmen, die keine Banken sind, lagen 2007 bei 210 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, inzwischen sind wir bei mehr als 240 Prozent angelangt.
Warum hat es die Welt nicht geschafft, die Schulden nach der Finanzkrise zu senken?
Die Gründe dafür sind je nach Land unterschiedlich. Ein häufiger Grund ist natürlich, dass die Zinsen nach wie vor außergewöhnlich niedrig sind. In einigen Ländern, die im Zentrum der Finanzkrise gestanden hatten, haben der private Sektor und insbesondere die Haushalte Schulden reduziert. Im Gegenzug ist allerdings die öffentliche Verschuldung gestiegen, nicht zuletzt wegen der schleppenden Wirtschaftstätigkeit und der Bewältigung der Probleme im Bankensektor.

Welche Länder haben Sie konkret im Auge?
Ich denke hier etwa an Irland, Spanien und die USA. Dagegen hat in mehreren Ländern, die nicht so stark von der Finanzkrise betroffen waren, hauptsächlich die Verschuldung des privaten Sektors zugenommen, weil die Schuldenstände zu Beginn der Krise zumeist niedriger waren und sich der Aufschwung des Finanzzyklus fortsetzte. China ist das prominenteste Beispiel. Hier ist eine bekannte, sich selbst verstärkende Dynamik am Werk.
Welche Rolle spielen die Niedrigzinsen genau?
Niedrige Zinsen können der Auslöser für einen Anstieg der Schulden sein. Es wird leichter, Geld zu leihen, was zu steigender Verschuldung und steigenden Vermögens- und Immobilienpreisen führt. Der Anreiz, sich zu verschulden und Risiken einzugehen, wächst dadurch noch mehr. An irgendeinem Punkt kehrt sich diese Entwicklung dann um.
Das heißt, dass die Notenbanken zu viel getan haben?
Das sollte man differenzierter sehen. Es war absolut notwendig, dass die Zentralbanken damals alles unternahmen, um ihre jeweiligen Volkswirtschaften und somit auch die Weltwirtschaft zu stabilisieren. Genau darum geht es ja bei Zentralbankpolitik. Mit ihren niedrigen Zinsen haben die Zentralbanken geholfen, dass die Welt nicht in eine Abwärtsspirale geriet. Und seit der Finanzkrise gab es große Bemühungen, das Finanzsystem sicherer zu machen – und die Notenbanken haben diese Bemühungen angeführt.
...aber?
Die Notenbanken haben jedoch zu wenig Unterstützung von anderer Seite erhalten. Die Regierungen gingen zu selten strukturelle Reformen an. Den Notenbanken wurde zu viel aufgebürdet. Das ist der Hauptgrund, weshalb die Zinsen so niedrig sind. Teil des Problems, dem wir nun gegenüberstehen, ist, dass die Notenbanken – im Einklang mit ihrem Preisstabilitätsmandat – über einen ungewöhnlich langen Zeitraum die Zinssätze ungewöhnlich niedrig gehalten haben. Dies birgt potenzielle Gefahren für die Finanzstabilität.
Die Notenbankpolitik hat gleichwohl Nebenwirkungen. Sie selbst haben bereits vor einer Schuldenfalle gewarnt. Sind wir darin schon gefangen?
Das lässt sich kaum mit Bestimmtheit sagen. Aber was ich sagen kann: Wenn die Schulden weiter steigen, wird es immer schwerer für die Zentralbanken, die Zinsen wieder anzuheben, ohne Probleme zu kreieren. Grundsätzlich sollten Notenbanken gute wirtschaftliche Bedingungen nutzen, um die Geldpolitik idealerweise mit ruhiger Hand zu straffen. Dass es dadurch kurzfristig zu stärkeren Schwankungen an den Finanzmärkten kommt, sollte eine Zentralbank nicht davon abhalten, entsprechende Schritte zu ergreifen, solange diese Volatilität nicht erhebliche Auswirkungen auf die Realwirtschaft hat.
Sie haben sich kritisch über den Markt für Unternehmensschulden in den USA geäußert. Wieso?
Erst mal ist dieser Markt interessant, weil er von der oben beschriebenen Schuldenentwicklung zeugt: In den Vereinigten Staaten haben die Haushalte, die im Zentrum der Krise standen, ihre Schulden gesenkt, während Unternehmen, die in geringerem Maße von der Krise betroffen waren, ihre Schulden erhöht haben. Wir sind natürlich nicht die einzigen, die vor der Verschuldung des US-Unternehmenssektors gewarnt haben. Sorgen macht uns beispielsweise der Markt für Leveraged Loans, also Kredite an ohnehin hochverschuldete Unternehmen. Dieser Markt ist stark gewachsen, er hat mittlerweile ein Volumen von etwa 1,3 Billionen Dollar.
Aber in den USA ist doch auch die Wirtschaft seit der Krise kräftig gewachsen.
Ja, aber wichtig ist, dass an diesem Markt auch die Kreditstandards gesunken sind. Zudem beunruhigt uns der Markt für US-Unternehmensanleihen mit einem Rating von BBB, der inzwischen einen Großteil der Unternehmensverschuldung insgesamt ausmacht. Unternehmen mit BBB-Rating gehören gerade noch zum Investment-Grade-Bereich, also dürfen institutionelle Anleger in diese Schuldtitel investieren. Aber ein Rating von BBB bedeutet, dass diese Unternehmen nur eine Stufe über Ramsch-Niveau stehen.
US-Unternehmensanleihen mit BBB-Rating haben mittlerweile ein Volumen von 2,25 Billionen Dollar und machen 75 Prozent des gesamten US-Investment-Grade-Marktes aus. Kann dieser gigantische Markt eine Rezession auslösen, wie manche Volkswirte warnen?
„Auslösen“ ist ein starkes Wort, ich würde eher sagen „eine Rezession widerspiegeln“ oder dazu „beitragen“. Wenn sich die Weltwirtschaft deutlich langsamer als bisher entwickeln würde oder es gar zu einer Rezession käme, wäre es wahrscheinlich, dass die Ratingagenturen große Teile dieses Marktes in den Ramsch-Bereich herabstufen müssten. Dadurch würden sich die Kredit-Spreads drastisch ausweiten. Die Risikoaufschläge für die Unternehmen würden also steigen, frisches Geld würde teurer, und einige Unternehmen könnten sogar den Zugang zu Finanzierungen verlieren. Dies würde die Marktreaktionen noch verstärken.
Was könnte der Auslöser für eine solche Marktdynamik sein?
Viele Investoren dürfen keine Anleihen aus dem Ramsch-Bereich halten. Sie müssten die Papiere also verkaufen, was zu sinkenden Preisen, steigenden Renditen und entsprechend höheren Finanzierungskosten für die Unternehmen führt. Herabstufungen auf breiter Front würden also nicht nur eine Rezession reflektieren, sondern sie auch verstärken. Das ist eine potenzielle Schwachstelle der Weltwirtschaft.
Inzwischen nutzen immer mehr Anleger passive Anlagevehikel wie ETFs, die bloß einen Anleiheindex abbilden. ETFs sind sehr liquide Anlagevehikel auf oft illiquide Wertpapiere, sie können schnell an den Börsen ge- und verkauft werden. Wie verändern diese Fonds die Anleihemärkte?
ETFs sind Teil eines generellen Aufschwungs der Kapitalanlagebranche, die von sehr günstigen Rahmenbedingungen profitiert. In einem solchen Umfeld tendieren Anleger häufig dazu, größere Risiken einzugehen. Im Aufschwung sieht es erst mal so aus, als gäbe es reichlich Liquidität an den Märkten. Deshalb wird auch stark in Anlageklassen investiert, wie beispielsweise manche Unternehmensanleihesegmente, deren Liquidität besonders sensibel auf das Marktumfeld reagiert. Die Investoren werden in diese Anlageklassen gelockt in der Erwartung, es gebe permanente Liquidität. Solche Schönwetter-Liquidität verschwindet allerdings sehr schnell, wenn die Märkte in Schwierigkeiten geraten. Abgesehen von technischen Besonderheiten könnten ETFs auf diese Weise die Marktdynamik verschlimmern.
Man kann argumentieren: Wenn es Probleme bei Unternehmensanleihen gibt, könnten die Notenbanken einfach wieder mehr Geld drucken, um die Probleme zu unterdrücken. Wie realistisch wäre das?
Natürlich würden die Zentralbanken reagieren, wenn Probleme in diesem Markt die Wirtschaft bedrohten. Aber ob das hilft, ist eine andere Frage. Womöglich wird das nicht reichen, die Wirtschaft könnte trotzdem schrumpfen. Denn das ist das, was wir in der Historie stets beobachten konnten. Hier kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel: Der Wirtschaftskreislauf hat sich seit Beginn der 1980er-Jahre verändert. Bis dahin war der Auslöser von Rezessionen stets, dass die Notenbanken mit einer strafferen Geldpolitik auf scharfe Inflationsanstiege reagieren mussten. Doch seit den 1980er-Jahren haben Rezessionen ihren Ursprung eher im Finanzbereich, da nicht tragfähige Aufschwünge des Finanzzyklus sich selbst korrigieren und kaum zu höherer Inflation führen. Wir müssen also den Finanzsektor besonders aufmerksam beobachten.
Was würde passieren, wenn die Inflation stärker als bisher steigen sollte?
Das ist eine wichtige Frage. Sollte die Inflation deutlich stärker als erwartet steigen, würde das die Lage noch problematischer machen. Die Notenbanken müssten dann die Geldpolitik straffen, während der Finanzsektor schwächer würde. In diesem Fall hätte die Geldpolitik aber weniger Raum zu agieren, es bestünden kaum Alternativen.
Was ist denn die Folge einer Welt voller Schulden? Ein unvermeidlicher Crash?
Ein Crash wäre keine Lösung des Problems. Er würde nur dazu führen, dass die Schulden weiter steigen, jedenfalls relativ zur Wirtschaftsleistung. Aber das muss nicht passieren. Wie erwähnt, es gibt Anzeichen, dass das Schuldenniveau sich stabilisiert.
Gibt es dann überhaupt einen gangbaren Weg aus den Schulden?
Natürlich, es gibt sogar drei Wege, von denen aber nur anderthalb funktionieren. Der erste ist eine höhere Inflation, die einhergeht mit weiterhin niedrigen Zinsen – eine Form von finanzieller Repression. Diese Kombination würde es Schuldnern ermöglichen, ihre Verbindlichkeiten leichter zurückzuzahlen, weil der Wert der ausstehenden Schulden sinkt. Aber wir haben in der Historie gesehen, dass eine höhere Inflation zu schwächerem Wachstum führt. Das kennen wir, das haben wir erlebt, aber diese Erfahrung wollen wir nicht mehr machen. Eine zweite Möglichkeit ist, die Schulden zu restrukturieren, sie also in Teilen zu streichen, aber das wird sehr schmerzhaft, weil Investoren auf Geld verzichten müssen, das sie verliehen haben. Eine gezielte Umschuldung kann ein Teil der Antwort sein, aber nur in begrenztem Umfang. Der beste Weg aus den Schulden ist, dass die Wirtschaft stärker und nachhaltiger als bisher wächst. Dadurch erhöht sich das Einkommen, und der Schuldenstand sinkt relativ zur Wirtschaftsleistung.
Wie kann das gelingen?
Das ist natürlich nicht einfach und funktioniert nur, indem die Regierungen strukturelle Reformen angehen. Ein typisches Beispiel wäre, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren oder mehr Konkurrenz in der Wirtschaft zuzulassen. Leider sind die strukturellen Reformen mit fortschreitender Erholung der Wirtschaft ins Stocken geraten.