Endspurt. Nach langem Hin und Her wollen die Europäische Union und Großbritannien sich jetzt im Eiltempo doch noch auf ein Abkommen über ihre künftige Beziehung einigen. Sollte dies ihren Unterhändlern bis Mitte November gelingen, könnte es gerade rechtzeitig zum 31. Dezember 2020 ratifiziert werden. Zu dem Zeitpunkt verlassen die Briten den Gemeinsamen Markt und die Zollunion mit der EU.
Die Verhandlungspositionen sind offenbar immer noch weit auseinander. Aber allein die Tatsache, dass nach einer kurzen britischen Trotzreaktion auf das nach Londoner Auffassung unbefriedigende Ergebnis des EU-Gipfels vom 14. -15. Oktober seit Ende letzter Woche wieder intensiv verhandelt wird, spricht dafür, dass die Chance auf einen „Deal“ auf mindestens 50 Prozent gestiegen ist.
In gewissem Sinne haben beide Seiten Vorbereitungen für einen Kompromiss getroffen. Frankreich hat seine Fischer gewarnt, dass sie künftig weniger in britischen Gewässern fangen dürfen. Großbritanniens Premier Boris Johnson hat durch seine kompromisslose Rhetorik unmittelbar nach dem EU-Gipfel vermutlich bei einigen der hartgesottenen Brexiteers im eigenen Lager punkten können. Das könnte es ihm erleichtern, seiner Partei später zu erklären, er habe der EU wirklich das bestmögliche Abkommen abgerungen.
Was macht London mit seiner Eigenständigkeit?
Die Konturen eines möglichen Abkommens zeichnen sich bereits seit Jahresmitte ab:
- Die EU akzeptiert, dass die Fangquoten für ihre Fischer rund um die britische Insel in den kommenden Jahren schrittweise abgesenkt werden. Die EU wird ihre Fischer dafür finanziell entschädigen. Auch wenn die gesamtwirtschaftliche Bedeutung dieses Sektors insgesamt gering ist – es geht um Rechte im Wert von weit unter 1 Mrd. Euro im Jahr – so kommt der Fischerei in Großbritannien und Frankreich hohe symbolische und politische Bedeutung zu.
- Großbritannien und die EU schließen ein Freihandelsabkommen mit einem weitgehenden Verzicht auf Zölle und Einfuhrquoten. Im Güterhandel und in anderen Bereichen geht das Abkommen aber kaum über die Vereinbarung zwischen der EU und Kanada hinaus. Für viele Dienstleistungen verlieren die Briten den bevorzugten Zugang zum EU-Binnenmarkt.
- Großbritannien akzeptiert, dass es aufgrund des weit größeren gegenseitigen Handelsvolumens strikteren Regeln als Kanada unterliegen muss, um einen fairen Wettbewerb zu sichern. Dazu gehören auch Subventionskontrollen, die London mit dem Austritt aus dem Gemeinsamen Markt eigentlich abschütteln wollte.
Ein grundsätzliches Problem wird sich in den kommenden Wochen nicht einmal ansatzweise lösen lassen. Die britische Seite hat bis heute keine genaue Vorstellung, wie sie ihre künftige Eigenständigkeit eigentlich nutzen möchte. Da London nicht weiß, welche Regeln und Standards in Großbritannien statt derjenigen der EU gelten sollen und wie es seine Subventionspolitik gestalten möchte, lässt sich im Vertrag über die künftigen Beziehungen kaum festlegen, in welchem Umfang die EU die künftigen britischen Praktiken als vereinbar mit einem freien Zutritt zum Gemeinsamen Markt akzeptieren kann.
Deshalb drängt die EU-Seite darauf, zwei Punkte vorab möglichst klar zu regeln. Erstens sollte der Vertrag darlegen, wie die EU den britischen Zugang zum Gemeinsamen Markt durch Zölle oder andere Instrumente einschränken kann, wenn die britische Seite gegen die festgelegten Maßstäbe für einen fairen Wettbewerb verstößt, beispielsweise durch übermäßige Subventionen für einige Sektoren. Zweitens muss es einen robusten Mechanismus geben, um Streitfragen zu schlichten. Dabei muss der Europäische Gerichtshof zumindest in dem Sinne eine entscheidende Rolle spielen, dass nur er letztlich EU-Recht verbindlich auslegen kann.
Streit über Streitbeilegungsverfahren
Gerade auf das Verfahren zur Schlichtung von Streitfragen legt die EU besonderen Wert. In London nimmt derzeit der Entwurf eines Gesetzes über den künftigen britischen Binnenmarkt seinen Weg durch die parlamentarischen Mühlen. Einige Passagen dieses Entwurfes verstoßen ausdrücklich gegen die Pflicht zur Kontrolle des Handels zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel, die Großbritannien mit dem im Januar ratifizierten Austrittsabkommen aus der EU akzeptiert hatte. Dieser – bisher nur angedrohte – Vertragsbruch hat die EU misstrauisch gemacht. Auch deshalb besteht Brüssel darauf, dass es klare Mechanismen geben muss, wie Streitfragen geregelt werden können.
Im Vergleich zu einem harten Brexit hätte ein Abkommen für Großbritannien zwei große Vorteile. Erstens würde das Land das Chaos vermeiden, dass bei einem ungeregelten Austritt aus dem Gemeinsamen Markt Anfang nächsten Jahres ausbrechen könnte. Auch wenn sich der Schock durch zeitlich begrenzte Ad-hoc Absprachen abfedern ließe, dürfte es doch zu einigen Schwierigkeiten an den Grenzen und vor allem zu vielerlei Unsicherheiten kommen. Für das kleinere Großbritannien würden diese Schwierigkeiten weit mehr ins Gewicht fielen als für die mehr als fünfmal größere Wirtschaft der EU. Zweitens würde Großbritannien so einen bevorzugten Zugang zu wichtigen Teilen des EU-Marktes behalten. Damit wäre das Land weiterhin ein besserer Standort für Unternehmen, die den gesamteuropäischen Markt beliefern möchten, als es sonst der Fall wäre.
Wir schätzen, dass das britische Trendwachstum sich mit einem Abkommen bei etwa 1,7 Prozent pro Jahr einpendeln könnte. Vor dem Austritt aus der EU lag es bei etwa 2 Prozent, ohne Anschlussabkommen würde es wohl auf nur noch 1,5 Prozent zurückgehen. Auch wenn diese Unterschiede klein erscheinen mögen, summieren sie sich doch über die Zeit. Je geringer das Trendwachstum, desto schwerer ist es beispielsweise, den derzeit gerade in Großbritannien besonders angeschlagenen Staatshaushalt wieder in Ordnung zu bringen.
Der harte Brexit ist nicht vom Tisch
Auch für die EU ist ein Handelsabkommen mit Großbritannien wirtschaftlich von Vorteil. Aber anders als für die Briten würde ein Scheitern der Verhandlungen die EU nicht allzu teuer zu stehen kommen. Dem Verlust durch einen nur noch eingeschränkten Zugang zum britischen Markt stünde eine Umlenkung von Handel, Investitionen und qualifizierten Zuwanderern von der britischen Insel in die EU gegen.
Dennoch steht auch für die EU viel auf dem Spiel. Die Gemeinschaft und Großbritannien haben auf vielen Gebieten gemeinsame Interessen, beispielsweise in der Außenpolitik. Sollte sich bei einem harten Brexit auf der britischen Insel eine Anti-EU-Stimmung verfestigen, könnte dies die künftige Zusammenarbeit erschweren. Dagegen könnte ein Rumpfabkommen als Ausgangspunkt für spätere Gespräche über andere Bereiche dienen. Dann wäre es durchaus denkbar, dass in einigen Jahren, beispielsweise nach einem Regierungswechsel in London, die EU und Großbritannien auch wirtschaftlich wieder enger aneinanderrücken. Eine künftige Labour-Regierung würde das Land zwar nicht in die EU zurückführen. Dieses hochemotionale Thema, dass die Nation gespalten hat wie kaum eine Frage zuvor, wird auf längere Zweit wohl keine ernstzunehmende politische Kraft in England mehr anrühren wollen. Aber ein Wirtschaftsabkommen, das weit über die jetzt angestrebte Minimallösung hinausgeht, wäre dann möglich.
Ob es ein Abkommen geben wird, bleibt unklar. Dass die Unterhändler beider Seiten bereits an einzelnen Formulierungen feilen, gibt Hoffnung. Vermutlich werden in den Verhandlungen der nächsten Wochen einige wichtige Streitfragen offenbleiben. Diese müssen dann entweder auf höchster Ebene politisch beigelegt werden müssen - oder es kommt doch zum harten Brexit. Leider steht dieses Risiko noch immer im Raum, auch wenn die Chancen auf einen Deal gestiegen sind.
Kennen Sie schon unseren Newsletter „Die Woche“ ? Jeden Freitag in ihrem Postfach – wenn Sie wollen. Hier können Sie sich anmelden