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Landtagswahlen Die politische Mitte muss sich endlich selbst erklären

Der Unternehmer und langjährige Politiker Harald Christ
Der Unternehmer und langjährige Politiker Harald Christ 
© Privat
Agieren statt reagieren: Nach den Wahlen im Osten müssen SPD, Union, Grüne und FDP unterscheidbare Lösungsansätze für die Probleme finden, die die Menschen in Deutschland umtreiben, statt sich von AfD und BSW treiben zu lassen

„Noch ein Sieg – und wir sind verloren…“ – dieser dem antiken griechischen König Pyrrhus nach einer gewonnenen Schlacht zugeschriebene Satz könnte als verbindende Überschrift über den Landtagswahlen dieses Spätsommers stehen. Bei aller Erleichterung über den Sieg von demokratischen Parteien der Mitte in Sachsen und Brandenburg wird leicht übersehen: Alle drei Urnengänge in den ostdeutschen Bundesländern zeigen, dass Parteien außerhalb des traditionell demokratischen Spektrums die eigentlichen Gewinner sind: In Brandenburg kommen AfD und die Wagenknecht-Partei auf zusammen 41 Prozent, in Sachsen auf 42 Prozent und in Thüringen auf ganze 48 Prozent.

Und das trotz vormals unerhörter Wahlkampfkoalitionen: Wenn der sächsische CDU-Ministerpräsident Kretschmer seinen SPD-Kollegen aus Brandenburg demonstrativ unterstützt – und nicht seinen örtlichen CDU-Parteifreund – dann ist der Weg für die kommenden 53 Wochen bis zur Bundestagswahl vorgezeichnet. Nur mit Bündelung aller gemeinsamen Kräfte schaffen die politischen Kräfte der Mitte es noch, Mehrheiten zu organisieren.

Deutschland wird zur gespaltenen Gesellschaft

Politisch, so ist festzustellen, entwickelt sich Deutschland zunehmend in eine gespaltene Gesellschaft – und das eben nicht entlang der historisch gewachsenen Linien. Hier das konservativ-liberale Lager, im Zweifel CDU/CSU und FDP, dort das sozialdemokratisch-alternative aus SPD und Grünen.

Harald Christ ist Unternehmer und ehemaliger Bundesschatzmeister der FDP. Er machte als Banker Karriere, wurde Vorstand bei der Postbank und der Ergo-Versicherung. Ende 2019 trat er aus der SPD aus und wechselte kurz darauf zur FDP. Heute führt Christ sein eigenes Beratungsunternehmen Christ & Company und investiert in Unternehmen.

Um Antworten auf die Frage nach den Ursachen drücken sich die verantwortlichen Politiker seit Jahren – ohne jeden erkennbaren Erfolg!

Das Land – dieses Gefühl haben immer mehr Menschen – rutscht in eine wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Dysfunktionalität. Wer nach Belegen sucht, wird an jeder Ecke fündig: Beim größten deutschen Autobauer VW stehen plötzlich tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel, weil die politischen Rahmenbedingungen aus Brüssel und Berlin es immer schwieriger machen, die Zukunft verlässlich zu planen. Die Pünktlichkeit der deutschen Bahn ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Unterfinanzierung der Infrastruktur und dem Unvermögen früheren politischen Handelns, das zu ändern. Und in Solingen mordet ein Islamist, von dem bekannt war, dass er das Land längst hätte verlassen müssen.

Der Erfolg von Regierungspolitik entscheidet sich in den Augen der meisten Wählerinnen und Wähler an einer ganz banalen Frage: Traue ich den Regierenden zu, von mir als drängend empfundenen Probleme zu lösen – oder zumindest anzugehen? Das gebetsmühlenartige Mantra der Notwendigkeit von Bürokratieabbau ohne spürbaren Erfolg, das seit Jahren unerfüllte Versprechen, den Bürgern zeitnahe Behörden- oder Facharzttermine zu garantieren bis hin zum repetitiv-inflationären „wir haben verstanden“, wenn in einer deutschen Innenstadt wieder Extremisten meucheln – so entsteht der Frust, der Menschen veranlasst, sich von den liberal-demokratischen Parteien oder, schlimmer noch, von der Politik abzuwenden.

Ukraine und deutsche Schuldenbremse

Problemlösung kostet Geld – gleich ob es um die Renovierung maroder Infrastruktur geht oder um zusätzliche Mittel für Innere Sicherheit, beispielsweise personelle und technische Ertüchtigung der Polizei. Auch hier verschließt die Bundespolitik krampfhaft die Augen vor dem Notwendigen. Wem soll glaubhaft vermittelt werden, dass die finanzielle Unterstützung der um ihre Existenz kämpfenden Ukraine sinnvoll und richtig sind – wenn gleichzeitig das Abstraktum der uneingeschränkt geltenden Schuldenbremse zum unverrückbaren politischen Credo erhoben wird?

Und der permanente moralische Appell zur Abwehr extremer Positionen von rechts (und links) ersetzt keine kreative politische Programmatik, die sich an den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger orientiert. Sollte, was durchaus möglich ist, bereits vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr deutlich werden, dass nur eine Große Koalition vermeintlich stabile Verhältnisse ermöglichen kann, dann wäre das ein verheerendes Signal.

Taktisches Wählen wie in Brandenburg birgt Gefahren

In den jüngsten Landtagswahlen wurde – kaum jemand wird das bestreiten – von überproportional vielen Bürgerinnen und Bürgern rein taktisch gewählt. Obgleich verständlich, ist ein solches Wahlverhalten auf Dauer schädlich für die Demokratie. Denn wer eine Partei (oder Person) nur wählt, um damit Schlimmeres zu verhindern, ist am Ende zwangsläufig enttäuscht, weil die Politik des Wahlsiegers logischerweise nicht seinen Interessen oder Vorlieben entspricht.

Was jetzt dringend erforderlich ist – und das gilt für die Parteien der in Berlin regierenden Ampelkoalition ebenso wie für CDU und CSU –, ist eine klare, für die Menschen verständliche und vor allem unterscheidbare Positionierung, die sich an den realen Problemen orientiert und sich eben nicht nur über die Abwehr populistischer oder extremistischer Antworten definiert. Agieren statt reagieren! Die Mitte muss sich endlich selbst erklären. Stattdessen tritt sie in der Migrationspolitik in einen Überbietungswettbewerb möglichst radikaler Forderungen ein, und das ist nicht nur rechtlich fragwürdig, sondern auch politisch schädlich.

Merz oder Scholz

Mit Blick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr droht ein Szenario, in dem ein erstarkter Populismus und dessen taktische Abwehrreaktion wie in Brandenburg vor allem die kleinen Parteien marginalisiert. Am Ende bliebe nur noch eine verkleinerte Große Koalition, deren wichtigste Gemeinsamkeit die Absage an die Radikalen von rechts und links ist. Eine alarmierende Vorstellung!

Denn gleich ob dann die Union aus CDU/CSU oder die SPD den Kanzler stellt, ob sich Friedrich Merz oder Olaf Scholz zum großen Gewinner erklären: Es wäre ein Pyrrhussieg!

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