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Kommentar Neue Obergrenze für den Ölpreis

Sind 50 Dollar je Barrel eine Ober- oder Untergrenze für Öl? Anatole Kaletsky erklärt, warum er eine Preisspanne von 20 bis 50 Dollar für realistisch hält.
Wegen des niedrigen Preises bunkern einige Konzerne ihr Öl auf See
Wegen des niedrigen Preises bunkern einige Konzerne ihr Öl auf See
© Getty Images
kaletsky

Anatole Kaletsky ist Chairman des Institute for New Economic Thinking und Verfasser von "Kapitalismus 4.0. Die Geburtsstunde einer neuen Wirtschaftsordnung"

Wenn eine Zahl das Schicksal der Weltwirtschaft bestimmt, dann ist es der Preis für ein Barrel Öl. Jeder globalen Rezession seit 1970 ging ein Anstieg des Ölpreises auf mindestens das Doppelte vorweg, und jedes Mal, wenn der Ölpreis um die Hälfte fiel und für etwa sechs Monate niedrig blieb, folgte eine deutliche Erholung der Weltkonjunktur.

Der Ölpreis ist inzwischen von 100 US-Dollar auf 50 US-Dollar gefallen und hält sich derzeit auf genau diesem kritischen Niveau. Sollten wir also davon ausgehen, dass 50 Dollar die Unter- oder Obergrenze der neuen Handelsspanne für Öl sein werden?

Die meisten Analysten betrachten 50 Dollar noch immer als Untergrenze – oder sogar als Sprungbrett, denn die Positionierungen auf den Terminmärkten deuten auf eine relativ rasche Erholung auf 70 oder 80 Dollar hin. Aber Ökonomie und Geschichte legen nahe, dass man den derzeitigen Preis als vermutliche Obergrenze einer viel niedrigeren Handelsspanne betrachten sollte, die bis zu einem Tiefstwert von 20 Dollar reichen könnte.

Kampf zwischen Monopol und Wettbewerb

Um das zu verstehen, sollte man sich zunächst die ideologische Ironie im Kern der heutigen Energiewirtschaft vor Augen führen. Der Ölmarkt war schon immer durch einen Kampf zwischen Monopol und Wettbewerb gekennzeichnet. Doch die meisten westlichen Kommentatoren wollen nicht zugeben, dass der Vorkämpfer des Wettbewerbs heute Saudi-Arabien ist, während die freiheitsliebenden Vertreter der texanischen Ölindustrie beten, die OPEC möge erneut ihre Monopolmacht geltend machen.

Lassen Sie uns nun die Geschichte betrachten – und zwar konkret die Geschichte der inflationsbereinigten Ölpreise seit 1974, dem ersten Auftritt der OPEC. Sie zeigt zwei deutlich verschiedene Preissysteme. Zwischen 1974 und 1985 fluktuierte der US-Referenzpreis für Öl zwischen 50 und 120 Dollar (nach heutigem Wert). Von 1986 bis 2004 rangierte er zwischen 20 und 50 Dollar (abgesehen von zwei kurzen Ausnahmen nach der irakischen Invasion in Kuwait 1990 und der Abwertung des russischen Rubels 1998). Und schließlich wurde das Öl von 2005 bis 2014 erneut mehr oder weniger in der Preisspanne der Jahre 1974 bis1985 von rund 50 bis 120 Dollar gehandelt (abgesehen von zwei sehr kurzen Preisausschlägen während der Finanzkrise von 2008/2009).

Anders ausgedrückt: Die Handelsspanne der vergangenen zehn Jahre ähnelte jener des ersten OPEC-Jahrzehnts, während die 19 Jahre von 1986 bis 2004 ein völlig anderes System repräsentierten. Es scheint plausibel, dass der Unterschied zwischen beiden Systemen durch den Machtverlust der OPEC im Jahr 1985 erklärbar ist. Der Niedergang der OPEC ging auf die Erschließung von Ölreserven in der Nordsee und in Alaska zurück, die den Wandel von Monopol- zu Wettbewerbspreisen auslöste. Diese Phase endete 2005, als der steile Anstieg der chinesischen Nachfrage vorübergehend eine weltweite Ölverknappung hervorrief, wodurch die Wiederherstellung der „Preisdisziplin“ durch die OPEC ermöglicht wurde.

Preisobergrenze bei 50 Dollar

Diese Daten lassen darauf schließen, dass 50 Dollar die Demarkationslinie zwischen dem monopolistischen und dem wettbewerbsbestimmten Preissystem darstellen könnten. Und die Ökonomie konkurrierender Märkte im Unterschied zu der für Monopolpreise verdeutlicht, dass 50 Dollar eine Preisobergrenze und keine Untergrenze sein werden.

In einem durch Wettbewerb bestimmten Markt sollten die Preise den Grenzkosten entsprechen. Vereinfacht gesagt spiegelt der Preis dabei die Kosten wider, die ein effizienter Lieferant hereinholen muss, wenn er das letzte zur Befriedigung der globalen Nachfrage benötigte Barrel Öl produziert. In einem monopolistischen Preissystem dagegen kann der Monopolist einen Preis deutlich über den Grenzkosten festlegen und dann die Produktion drosseln, um zu gewährleisten, dass das Angebot die Nachfrage nicht übersteigt (was es ansonsten aufgrund des künstlich überhöhten Preises tun würde).

Bis zum vergangenen Sommer galt beim Öl ein Monopolpreis, weil Saudi-Arabien sich zu einem „Ausgleichsproduzenten“ entwickelt hatte, der das Angebot drosselte, wann immer es die Nachfrage überstieg. Das System schuf jedoch starke Anreize für andere Ölproduzenten insbesondere in den USA und Kanada, ihre Produktion deutlich zu steigern. Trotz erheblich höherer Produktionskosten konnten die nordamerikanischen Produzenten von Schieferöl und -gas dank der saudi-arabischen Preisgarantie riesige Gewinne einfahren.

Die Saudis konnten die hohen Preise nur aufrechterhalten, indem sie ihre eigene Produktion drosselten, um auf dem Weltmarkt für die stetig zunehmende US-Produktion Platz zu machen. Im vergangenen Herbst kam die saudische Führung dann offenbar zu dem Schluss, dass diese Strategie nicht erfolgversprechend war – und sie hatten Recht. Zu Ende gedacht, hätte sie Amerikas Aufstieg zum weltführenden Ölproduzenten bedeutet, während Saudi-Arabien in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht wäre, und zwar nicht nur als Ölexporteur, sondern möglicherweise sogar als Land, das zu verteidigen die USA sich verpflichtet fühlen.

Saudis müssen mit voller Leistung fördern

Die Ölpotentaten des Nahen Ostens sind nun entschlossen, diesen Statusverlust rückgängig zu machen. Ihr jüngstes Verhalten innerhalb der OPEC zeigt es deutlich. Doch die einzige Möglichkeit, wie die OPEC ihren Marktanteil wiederherstellen oder auch nur aufrechterhalten kann, besteht darin, die Preise bis auf einen Punkt zu drücken, an dem die US-Produzenten ihre Förderung drastisch reduzieren, um das globale Angebot und die globale Nachfrage ins Gleichgewicht zu bringen. Kurz gesagt: Die Saudis müssen die Rolle des „Ausgleichsproduzenten“ aufgeben, und stattdessen die US-Frackingunternehmen in diese Rolle zwingen.

Jedes Wirtschaftslehrbuch würde genau dieses Ergebnis empfehlen. Die Förderung von Schieferöl ist teuer; daher sollte es im Boden bleiben, bis alle weltweiten preiswerten konventionellen Ölfelder mit maximaler Kapazität fördern. Zudem lässt sich die Schieferölproduktion preiswert rauf- und runterfahren.

Durch den Wettbewerb bestimmte Marktbedingungen würden daher diktieren, dass Saudi-Arabien und andere Billigproduzenten immer mit voller Leistung fördern, während die US-Frackingunternehmen rohstoffmarkttypische Boom-Bust-Zyklen durchmachen, d.h. bei schwacher Weltnachfrage oder der Erschließung neuer, preiswerter Vorkommen im Irak, Libyen, dem Iran oder Russland ihre Produktion herunterfahren und sie bei hoher Ölnachfrage wieder steigern.

Gemäß dieser Wettbewerbslogik würden sich die Grenzkosten für US-Schieferöl zur Obergrenze für die globalen Ölpreise entwickeln, während die Kosten relativ abgelegener, marginaler konventioneller Ölfelder in den OPEC-Ländern und in Russland die Untergrenze bestimmen würden. Tatsächlich liegen die Kostenschätzungen für die Schieferölproduktion überwiegend bei rund 50 Dollar, während die Grenzkosten marginaler konventioneller Ölfelder bei rund 20 Dollar liegen. Daher dürfte die Handelsspanne in der schönen neuen Welt wettbewerbsbestimmter Ölpreise ungefähr zwischen 20 und 50 Dollar liegen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2015.
 www.project-syndicate.org

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