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Kolumne "Woanders is’ auch scheiße!"

Die Bahn ist der Lieblingsaufreger der Deutschen. Zuweilen bietet sie jedoch Raum für neue Einsichten.
Die Bahn ist der Lieblingsaufreger der Deutschen. Zuweilen bietet sie jedoch Raum für neue Einsichten.
Neues aus dem Krisengebiet Kommunikation: Eine Kolumne von Malte Bülskämper, Texter und Kreativdirektor aus Berlin.

Obwohl ich häufig und gerne mit der Bahn reise, vergesse ich immer mal wieder, einen Sitzplatz zu reservieren. So bin ich mit der Zeit ein großer Fan des Bordbistros der Bahn geworden. Mal abgesehen von der Schalker Nordkurve kann man wohl nirgendwo so famose Gespräche belauschen wie in dieser rollenden Oase der Geselligkeit. Auch heute finde ich, trotz geänderter Wagenreihung (Überraschung!), den Weg in den Speisewagen und stelle hier die These „Reisen bildet“ einmal mehr auf den Prüfstand.

Im Bordrestaurant des ICE 546 von Berlin nach Düsseldorf sind alle wie wild am Telefonieren. Durch die beliebten kabellosen In-Ear-Bluetooth-Kopfhörer wirken die Reisenden wie eine Gruppe komplett Irrer, die unentwegt Selbstgespräche führen. Und wer schon mal von Berlin nach NRW gefahren ist, der weiß, dass es unterwegs gefühlte 47 Funklöcher sowie äußerst wackeliges Internet gibt, so dass einiges im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleibt.

Entwicklungsland aus Überzeugung

In Sachen Internet sind wir ja ohnehin Entwicklungsland aus Überzeugung – wer braucht schon 5G an jeder Milchkanne oder wie formulierte es die Bundesforschungsministerin noch so trefflich? Wie auch immer. In jedem Fall versuchen hier alle wider besseren Wissens beinahe schamanenhaft das ICE-WLAN zu beschwören oder hartnäckig durch sämtliche Funklöcher hindurch zu telefonieren.

So bleibt es nicht aus, dass alle ständig Unterbrechungen in ihren Gesprächen haben und das Gesagte immer und immer wieder mit Nachdruck wiederholen – natürlich nicht ohne dabei die Lautstärke stetig weiter zu steigern, das hilft ja bekanntlich gegen schlechten Empfang.

Als ich einen Minztee bestelle, werde ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Bahn mittlerweile drei Größen anbietet: „S, M oder L?“ Fast schon beeindruckt ob dieser Optionen entscheide ich mich für „Large“. Interessant, was hier so alles „optimiert“ wird.

„Starbucks macht das schon lange: Tall, Grande und Venti…“ kommentiert ein Fahrgast. Ach, nee. „Fehlt nur noch, dass der Name auf dem Becher steht.“ ergänzt ein anderer mitreißender Mitreisender. Als mein Handy-Akku sich dann endgültig verabschiedet, stelle ich fest, dass es im Bordrestaurant keine Steckdosen gibt.

„Ist ja kein Büro hier, junger Mann“ - knufft mein Sitznachbar mir freundlich in die Seite. Angesichts der Tatsache, dass hier alle Currywurst essen und Bier trinken, hätte ich mir das beinahe denken können. Die Currywurst schmeckt im Übrigen sehr gut, wenn auch nicht ganz so überragend wie im Ruhrgebiet, das wir hoffentlich bald erreichen werden. Nicht umsonst verspricht die Speisekarte der Bahn „Genuss auf ganzer Strecke“ – kann ich nur unterschreiben!

Nieselregen in Gladbeck West

In Essen dann Umstieg in den Nahverkehr… senk ju for träwelling! Kaum sitze ich im Regionalzug, ertönt eine Nachricht, die auch der Titel des neuen Romans von Heinz Strunk sein könnte: „Schienenersatzverkehr ab Gladbeck West.“ Na, hallelujah.

Nur wenige Minuten später stehe ich mit einigen anderen semi-optimistisch Wartenden im Halbkreis um eine provisorische Bushaltestelle, die unmissverständlich anzeigt, dass der nächste Bus schon in 45 Minuten (!) abfährt. Zu allem Überfluss fängt es an zu regnen.

Mit Prosper-Haniel hat hier ganz in der Nähe gerade die letzte Zeche geschlossen - kein Wunder also, dass der Himmel über der Region weint. Eine patente ältere Dame fasst die Lage fulminant zusammen mit den Worten: „Hömma, schön is’ dat nich!“

Und dann fällt plötzlich der Satz, der den Charakter des Ruhrgebiets wohl besser beschreibt als jeder andere: „Ach komm is’ egal, woanders is’ auch scheiße!“ Frank Goosen hätte seine wahre Freude gehabt, stützt die Situation doch auch eine weitere seiner Thesen: Das Ruhrgebiet schön finden, das muss man wollen!

Hier kann man seinen Begriff von Schönheit erweitern. Als Kind des Ruhrpotts und als Wahlberliner habe ich mir schon oft gesagt: Das Hässliche ist das eigentlich Schöne! In diesem Sinne schaue ich in den Nieselregen von Gladbeck West und denke: Vermutlich ist es der schönste Nieselregen der ganzen Welt. Und ja, es stimmt: Reisen bildet.

Malte Bülskämper ist Texter und Kreativdirektor aus Berlin. In seiner Kolumne schreibt er über die kleinen Absurditäten des Alltags in unserer Kommunikationsgesellschaft. Bisher erschienen: Vom Feeling her ein analoges Gefühl

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