Der Verkäufer auf dem Flohmarkt hatte keinen Schimmer, wer der ältere Herr im feinen Zwirn war, der sich für das Modell des roten Ferrari 312 PB interessierte. Das Originalauto hatte 1972 die Sportwagen-WM gewonnen, aber das war nicht der Grund, warum sich der weißhaarige Mann nach dem Preis des Flitzers erkundigte. Ihm ging es um einen Werbeschriftzug: „Chronograph Heuer“ stand auf dem Modellauto.
Für 50 Franken hatte Jack Heuer den Ferrari damals gekauft, der heute im Museum der Manufaktur TAG Heuer im Schweizer Uhrenort La Chaux-de-Fonds im Jura ausgestellt ist. Jack, der Urenkel des Firmengründers Edouard Heuer, lächelt spitzbübisch, als er die Anekdote erzählt. Er stützt sich auf das Glas der Ausstellungsvitrine, zwei künstliche Kniegelenke erschweren ihm das Stehen. „Wissen Sie, warum ich das Modell gekauft habe?“, fragt er. Tausende seien damals davon produziert worden: „Und jedes trägt unser Logo. Bezahlt haben wir für diese Werbung: nichts!“
Erinnerungsstücke zusammentragen, Geschichten erzählen, Kontinuität herstellen – Heuer brennt spürbar für solche Aufgaben, immer noch, obwohl er in diesem November seinen 85. Geburtstag feiert. Als Ehrenpräsident gibt er der Marke, die seinen Namen trägt, ein Gesicht – auch wenn sie längst nicht mehr ihm gehört. „Ich bin die Verbindung zum Ursprung“, sagt er.
Nicht immer hat man auf diese Verbindung in La Chaux-de-Fonds so viel Wert gelegt, wie man es heute wieder tut. Wegen einer „inneren Intrige“, erzählt Heuer, habe er 1982 das Familienerbe verloren. Aber er kehrte zurück. Auch wenn es lange dauern sollte. Heute ist er einer der wenigen noch aktiven Nachfahren der großen Schweizer Uhrmacherdynastien, ein Urgestein der Branche.
Magnet für die High Society

Neben dem Modellauto ist eine „Carrera“ ausgestellt, Heuers Lieblingsuhr. Täglich trägt er eine am Handgelenk, das Armband ist innen abgewetzt. 1963 hat er sie konstruiert. Kurz darauf, in den 60er- und 70er-Jahren, begann er, das Uhrenmarketing zu revolutionieren – und baute die Marke Heuer, die bis dahin vor allem für Stoppuhren bekannt war, zur Legende unter den Schweizer Manufakturen auf.
Heuers Urgroßvater hatte das Unternehmen 1860 in Saint-Imier gegründet und dort das weltweit erste Patent für Stoppuhren angemeldet. Bei den Olympischen Spielen 1920, 1924 und 1928 lieferten die Schweizer die offiziellen Zeitmesser.
Jack, der Urenkel, tritt nach seinem Studium der Elektrotechnik mit 26 Jahren in die Firma ein, die inzwischen von seinem Vater geführt wird. Er ist noch keine 30, als der ihm die Leitung überträgt. Weil der Sohn mit Uhren aus der Schweiz die Welt erobern will, baut er eine Filiale in New York auf. Als begeisterter Autofahrer ist er fasziniert vom Motorsport, besonders von den Zwölf-Stunden-Rennen. Er konstruiert eine Armbanduhr mit Zwölf-Stunden-Messer, die zum Klassiker wird. „Carrera“ nennt er sie, in Anlehnung an die mexikanische Rallye Carrera Panamericana.
„Aber die cool guys waren in der Formel 1“, erinnert sich Heuer. Der Sport ist ein Magnet für die High Society, da will er hin. Die Tür öffnen soll ihm Jo Siffert, damals ein Star in der Schweiz. Heuer bietet dem Formel-1-Piloten 1968 einen Deal an: 25.000 Franken, wenn er eine „Autavia“ trägt, deren Name sich aus „Automobile“ und „Aviation“ zusammensetzt. Siffert wird zum ersten Markenbotschafter.
Am 24. Oktober 1971 dann das Drama: Siffert verunglückt tödlich. Heuer entschließt sich, statt einzelner Fahrer fortan nur noch Teams zu sponsern – und schließt einen Deal mit Ferrari. Bis heute ist TAG Heuer in der Formel 1 aktiv – als Partner des Red-Bull-Racing-Teams. Dass Uhrenmarken aus der Welt des Profisports inzwischen nicht mehr wegzudenken sind, ist dem Pionier Heuer zu verdanken.
Schmuggeln für McQueen

Sein nächster Marketing-Coup beginnt mit einem Uhrenschmuggel. Hollywood erlebt eine seiner Hochphasen, Heuer fragt sich, wie er Uhren in Filmen platzieren kann. Bei einer Party in Los Angeles lernt er in jener Zeit Don Nunley kennen. Der Filmausstatter erzählt ihm von seinem aktuellen Projekt, dem Rennfahrerepos „Le Mans“ mit Steve McQueen, dem Superstar der späten 60er-Jahre. Heuer bietet an, den Film mit Uhren auszustatten. Die beiden tauschen Adressen aus.
Lange passiert nichts. Erst einige Wochen später meldet sich Nunley plötzlich aufgeregt bei Heuer. Er sei gerade zum Drehen in Frankreich gelandet, sagt er, und es fehle an allem: Chronografen, Handstoppuhren, Klemmbrettern, Etuis. Ob Heuer helfen könne? Er kann. Doch der Dreh soll in drei Tagen beginnen. Unmöglich zu schaffen, sagt Heuer, die Zollformalitäten hätten viel zu lange gedauert. „Es gab nur eine Möglichkeit: Wir mussten die Uhren schmuggeln.“ Kurzerhand verstecken sie die Waren im Auto eines Mitarbeiters, der sich auf den Weg nach Frankreich macht.
Das zweite Problem: Heuer hat keine „Autavia“-Modelle vorrätig. Stattdessen schickt er sieben Exemplare eines Ladenhüters ans Set: der quadratischen „Monaco“. Aus der Notlösung wird ein grandioser Erfolg. Der Film verhilft dem Modell zu ungeahnter Popularität, das Bild von Steve McQueen im Rennanzug mit Heuer-Logo wird zur Ikone. Hollywoodstars wie Jack Lemmon, Burt Reynolds und Charlton Heston gehören zur nächsten Generation der Markenbotschafter, bis heute setzt TAG Heuer auf Sport- und Schauspielgrößen wie Cristiano Ronaldo, Lewis Hamilton, Patrick Dempsey, Leonardo DiCaprio und Brad Pitt.
Falsche Freunde
Doch dann kam die Quarzkrise. Ab Mitte der 70er-Jahre fluteten elektronische Uhren aus Japan den Markt, die günstiger und genauer waren als die mechanischen Meisterwerke der Schweizer. „Der härteste Schlag aber war die Dollarabwertung“, erinnert sich Heuer. Importeure gingen pleite, darunter sein Hauptlieferant für Stoppuhrteile. „Wir haben restrukturiert, Mitarbeiter entlassen, aber es reichte nicht.“
Zu allem Überfluss vertraute er dann auch noch den falschen Freunden. „Da wurde ein böses Spiel hinter meinem Rücken gespielt“, sagt Heuer. Während er gegen den Untergang kämpfte, halfen einige seiner engsten Vertrauten bereits bei einer feindlichen Übernahme durch die Piaget-Gruppe. „Es war eine furchtbare Zeit“, erinnert sich Heuer, der sein ganzes Privatvermögen in die Firmenrettung steckte. „Alle gingen pleite. Breitling, Omega, alle.“ Die Schweizer Uhrenindustrie lag am Boden. Zwei Drittel der 90.000 Beschäftigten verloren ihren Job, Hunderte Betriebe schlossen, viele Traditionshäuser wurden aufgekauft.
Am 25. Juni 1982 wurde Heuer vom Hof gejagt. Nur sein Pult nahm er mit und eine Kiste mit Erinnerungsstücken, die er zu Hause im Keller einmottete. „Ich habe meine Aktienmehrheit für ein Trinkgeld abgeben müssen.“ Seine Augen, die beim Erzählen sonst pure Freude versprühen, verdunkeln sich. „Man verschwindet“, sagt er nachdenklich. „Man wird zu einem Nobody. Und das mit 50 Jahren.“
Angebote anderer Manufakturen lehnte Heuer ab. „Ich hatte mit der Branche gebrochen.“ Nur vor den Schaufenstern der Juweliere blieb er oft stehen, um die neuesten Modelle zu begutachten. Unerkannt besuchte er Uhrenmessen, doch um den Stand von TAG Heuer, wie die Firma seit 1985 hieß, machte er einen Bogen. Piaget hatte das Unternehmen da bereits weiterverkauft an die Techniques d’Avant Garde, kurz TAG, eine Firma des arabischen Unternehmers Mansour Ojjeh.
Heuer fand eine neue Aufgabe bei IDT, einem LCD-Spezialisten aus Hongkong. Er verantwortete die weltweite Expansion des Konzerns und steigerte die Mitarbeiterzahl von 200 auf 10.000.

Von der Uhrenbranche hörte er erst wieder, als bei TAG Heuer der nächste Wechsel anstand. 1999 kaufte der Luxuskonzern LVMH die Marke – für 1,15 Mrd. Franken. Jean-Christophe Babin, der heutige Bulgari-Chef, nahm damals Kontakt zu Heuer auf, um ihn als Berater und Ehrenpräsident zu gewinnen. Nach knapp 20 Jahren besuchte er erstmals wieder seine alte Firma. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Weil Babin „ein guter Kerl“ sei, habe er zugesagt, erzählt Heuer. Zurück in Bern stieg er in den Keller und öffnete die Kiste mit den Erinnerungsstücken. Vieles, was er darin fand, ist heute im Museum ausgestellt.
Natürlich findet sich dort auch eine Original-„Monaco“ aus dem Film „Le Mans“. Damals, nach den Dreharbeiten, wollte der Requisiteur die Uhren eigentlich zurück in die Schweiz schicken, doch Heuer lehnte ab. „Zu gefährlich, die Schmuggelware über die Grenze zu bringen.“ Stattdessen ließ er Nunley die Uhren an seine Crew verschenken. McQueen habe getobt, weil er keine abbekommen habe, erzählt Heuer. Erst als die Film-„Monacos“ Jahre später bei Versteigerungen auftauchten, wurde das Exemplar zurückgekauft, das heute im Museum liegt.
Über die Geschichte kann Heuer bis heute lachen, genau wie über die Anekdote mit dem Modell-Ferrari. Muss ein schöner Job sein, für TAG Heuer nach Flohmarkt-Schnäppchen zu suchen.