Volksabstimmungen in der Schweiz erregen nur selten die Gemüter außerhalb der Landesgrenzen. Für Befürworter direkter Demokratie wird das kleine Land häufig als Beispiel für diese Form der Mitbestimmung herangezogen. Andere lächeln mild über die eigensinnigen Schweizer. Das Abstimmungsergebnis über die Begrenzung der Zuwanderung vom Sonntag lässt aber weder die Eidgenossen noch die Europäer kalt. Den knappen Sieg der Begrenzungsbefürworter um die rechtspopulistische SVP hatte niemand recht erwartet. Markus Spillmann, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung sieht sein Land auf einem gefährlichen Weg:
„Die binnenorientierte Schweiz hat obsiegt. Für eine kleine, offene und ressourcenarme Volkswirtschaft ist das gar kein gutes Zeichen.“
Die Reaktionen in Deutschland fielen zum Teil harsch aus. SPD-Vize Ralf Stegner vom linken Flügel seiner Partei versuchte erst gar nicht einen diplomatischen Ton anzuschlagen. Auf seiner Facebook-Seite postete er:
„Die Schweizer spinnen doch: Abschottung gegen Europa wird in Volksabstimmung abgesegnet. Wahrscheinlich richtet sich das nur gegen die Habenichtse. Gegen die Kontoinhaber Hoeneß, Schwarzer & Co. und andere vom deutschen Schwarzgeldadel richtet sich das doch wohl nicht, oder?! Wertegemeinschaft Europa im Jahre 2014 - so sieht das aus in den Augen der Schweizer Nationalisten. Manchmal fällt einem nichts mehr ein, wenn man solche Nachrichten liest.“
Vertragliche Verpflichtungen
Stegner ist bekannt für diesen Ton und muss dafür auch Prügel in der gleichen Tonlage einstecken. Ihm und anderen Befürwortern direkter Demokratie wird vorgeworfen, dass sie nicht bereit sind, unliebsame Ergebnisse zu akzeptieren. Kritik an der Schweizer Abstimmung gibt es aber auch von Politikern, die nicht so rauflustig sind wie Stegner. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, erinnert die Alpenrepublik per Tweet an ihre Verpflichtungen:
Gelassen und rational kommentiert Regierungssprecher Steffen Seibert das Votum: „Die Bundesregierung nimmt das Ergebnis dieser Volksabstimmung zur Kenntnis und respektiert es, es ist aber durchaus auch so, dass aus unserer Sicht dieses Ergebnis erhebliche Probleme aufwirft“, sagte er. Diese erheblichen Probleme ergeben sich aus der Anbindung der Schweiz an die EU. In bilateralen Abkommen hatten die Eidgenossen und die Europäer vereinbart, dass die Personenfreizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft auch für die Schweiz gilt. Die EU-Kommission sieht „das Prinzip des freien Personenverkehrs zwischen der Europäischen Union und der Schweiz“ durch das Votum verletzt.
Folker Hellmeyer, Chefanalyst der Bremer Landesbank, fasst die möglichen Konsequenzen kurz und knapp in einem Satz zusammen:
„Wer die Freizügigkeit der Menschen einschränkt, kann nicht darauf setzen, die Freizügigkeit der Wirtschaft mit entsprechender Bevorzugung im Verhältnis zur EU weiter zu genießen.“
Insgesamt sieben Abkommen haben beide Seiten miteinander abgeschlossen. Auf Süddeutsche.de sagt der Konstanzer Europarechtler David Thym, dass die Abkommen jederzeit von beiden Seiten gekündigt werden können. Die Kündigung trete dann sechs Monate später in Kraft. Hinzu kommt: Wenn eins der Abkommen gekündigt wird, gilt das auch für die anderen. Auf die Regierung in Bern kommt jetzt jedenfalls viel Arbeit zu. Sie muss die Volksabstimmung binnen drei Jahren umsetzen.
Negative Folgen für die Schweizer Wirtschaft
Große Sorgen macht sich die Schweizer Wirtschaft und ihre Verbände, die sich für ein Nein stark gemacht hatten. Ganz besonders pessimistisch sind die Ökonomen der Credit Suisse. Die Neue Zürcher Zeitung fasst deren Einschätzung zusammen:
„Sie rechnen damit, dass über die nächsten drei Jahre in der Schweiz rund 80.000 Arbeitsplätze weniger geschaffen werden, als das unter der Personenfreizügigkeit (PFZ) der Fall gewesen wäre. Da auch die Investitionen sinken dürften, sei über die dreijährige Übergangsperiode zum neuen Zuwanderungssystem von einem um 0,3 Prozent niedrigeren Bruttoinlandprodukt auszugehen. Darüber hinaus werde auch das langfristige Wachstumspotenzial beeinträchtigt.“
Ökonomen gehen aber davon aus, dass die Bremsspuren erst mit Verzögerung sichtbar werden. Tendenziell schwächer dürfte auch der Franken auf die Entscheidung reagieren, glauben Volkswirte der Großbank UBS. Das aber würde dem Wirtschaftswachstum des Landes eher nutzen.
Aufwind für Rechtspopulisten
In der EU löst das Ergebnis des Referendums Befürchtungen vor einem Aufschwung rechtspopulistischer Parteien und Gruppierungen aus. Sie könnten von dem Votum im Nachbarland bei der im Mai stattfindenden Europawahl profitieren. Wolfgang Koydl von der Süddeutschen Zeitung glaubt ohnehin nicht, dass Volksabstimmungen über das Thema in EU-Ländern anders ausgingen:
„Ließe man Niederländer, Deutsche oder Franzosen über die Zuwanderung abstimmen, fiele das Ergebnis wohl nicht viel anders aus als in der Schweiz. Denn auch in der EU spürt man die Risiken und Nebenwirkungen der Personenfreizügigkeit. Das ist kein Wunder auf einem Kontinent mit einem derart großen Wohlstandsgefälle wie in Europa.“
Koydl warnt davor, Kritik an der Freizügigkeit mit Fremdenfeindlichkeit gleichzusetzen:
„Die Zuwanderung wird eher als Symptom für ein allgemeines Unbehagen an einer Entwicklung gesehen, die außer Kontrolle zu geraten droht: ein grenzenloses Wachstum, das mehr Nachteile produziert als Wohlstand.“
Dass die Gegner der Freizügigkeit gewillt sind, den Schweizer Rückenwind zu nutzen, machte am Montag die Euro-kritische AfD klar. Auch in Deutschland sei ein Zuwanderungsrecht zu schaffen, „das auf Qualifikation und Integrationsfähigkeit der Zuwanderer abstellt und eine Einwanderung in unsere Sozialsysteme wirksam unterbindet“, sagte AfD-Sprecher Bernd Lucke. „Auch dafür sollten gegebenenfalls Volksabstimmungen ermöglicht werden, wenn die Altparteien das Problem weiter ignorieren.“