Ein schwerer und trauriger Tag: Mein ukrainischer Freund hat München verlassen. Was ist passiert? Er ist vor anderthalb Wochen bei uns in München mit seiner Frau, seinen drei Kindern, zwei weiteren Frauen und einem weiteren Kind eingezogen. Wir haben uns sofort angefreundet und viel Zeit miteinander verbracht. Als wir an einem Abend beim Essen saßen, fragte er, ob wir Kleidung in der Stadt kaufen könnten. Ich bejahte und fragte, was er denn brauchen würde. Er zeigte mir Bilder im Internet von Soldatenkleidung im Camouflage-Look. Ich fragte ihn, wofür er die Kleidung benötigen würde und er entgegnete nur trocken: „Going to war“. Er wollte in den Krieg ziehen.
Während ich den Text schreibe, laufen bei mir die Tränen. Ich war schockiert und sprachlos. Er erklärte mir, dass doch nun alles gut sei. Er sei froh, seine Familie sei in Sicherheit, sie hätten ein gutes zu Hause und Freunde mit uns gefunden. Er wolle und müsse nun sein Land verteidigen.
Verzweiflung kam in mir hoch, als ich mir ihn im Krieg vorgestellt und seine Frau und seine Kinder gesehen habe. Er ist 45, nur ein Jahr älter als ich. Ich habe aber in den letzten Tagen durch viele Gespräche verstanden, dass die Ukraine überhaupt nur eine Chance hat, den Aggressor zu besiegen und unabhängig zu bleiben, wenn eben diese Helden Mut beweisen. Wir waren dann zusammen einkaufen und haben Kleidung besorgt. Danach stand der Metro-Einkauf auf der Agenda: Augustiner-Bier für ihn und seine Jungs und Lebensmittel für einige Wochen.
Dann kam der Abschiedstag. Wir haben seinen Wagen beladen, er hat sich von seinen Kindern und seiner Frau verabschiedet. Dann gingen wir ohne die Kinder nach draußen und er ist gefahren. Bei schönstem Wetter, voller Entschlossenheit. Ich hatte seine Frau lange im Arm. Wir haben beide Rotz und Wasser geheult. Sie ist stark und wird das mit den Kindern und gemeinsam mit uns und ihren Freundinnen schaffen. Sie sind nun ein Teil unserer Familie und werden es immer bleiben. Und wir werden alle zusammen ein schönes Wiedersehen mit meinem Freund in München feiern und gemeinsam in Kiew Zeit verbringen. Daran glaube ich fest!
Als Kriegsdienstverweigerer, oder besser gesagt als überzeugter Zivi, wäre ich vermutlich der erste Geflüchtete mit meiner Familie und Freunden gewesen und wäre niemals nach einer Flucht in die Sicherheit zurück in den Krieg gezogen. Ich wäre dann nicht mutig gewesen, sondern ein Feigling. Oder?
Ich bin mit meinem ukrainischen Freund regelmäßig in Kontakt: Er bekommt Fotos und Videos von uns, vor allem von den Kindern. Er kommentiert alles sehr emotional und sagt, dass er uns alle vermisst. Zwei Freunde, die Männer der beiden anderen Frauen, die bei uns in München wohnen, sind bei ihm. Er ist jetzt im Westen der Ukraine stationiert, rund 80 Kilometer entfernt von der polnischen Grenze. Er absolviert Trainings mit den Streitkräften, wurde aber noch nicht in die umkämpften Regionen abberufen. Dort ist er relativ sicher. Er war in den letzten Tagen auch mal bei einem Friseur oder in einem der geöffneten Cafés. Er hat immer diesen fatalistischen Spruch: "Save today, save tomorrow. In two days? I don't know."