Das Konzept nachhaltiger Anlagen, kurz ESG, muss derzeit viel Kritik einstecken. Doch das dicke Ende kommt womöglich erst noch. Kleinanleger beginnen gerade erst, bei ESG-Anlagen einen prüfenden Blick unter die Motorhaube zu werfen. Vielen gefällt nicht, was sie da sehen. Nach der Fondstochter der Deutschen Bank DWS sieht sich nun auch Goldman Sachs mit Vorwürfen zu Greenwashing konfrontiert.
Die Risse in der ESG-Fassade werden auch anderswo größer. Nach drei Jahren mit enormen Zuflüssen kühlt die Nachfrage ab: Im ersten Quartal gingen die Zuflüsse in ESG-Fonds weltweit um 36 Prozent zurück, so die Ratingagentur Morningstar. Nach Schätzungen von Bloomberg Intelligence verlangten Anleger im Mai die bisher größten monatlichen Rückzahlungen aus börsengehandelten ESG-Fonds in den USA.

Auch die Renditen von ESG-Anlagen beginnen zu sinken. In der zweiten Juniwoche verloren europäische ESG-Aktienfonds im Durchschnitt 14 Prozent, verglichen mit einem Rückgang von 11 Prozent beim Stoxx Europe 600 Index. In den USA verloren sie 16 Prozent und waren damit kaum besser als der S&P 500.
Aber vielleicht noch wichtiger: Zweifel daran, wie viel Gutes ESG tatsächlich bewirkt, könnten Anlegerinnen und Anleger dauerhaft abschrecken.
Wie den 37-jährigen Neil Baker, der in der britischen Baubranche arbeitet. Vor knapp zwei Jahren begann er, sich nach ESG-Investitionen umzuschauen. Was er fand, gefiel ihm gar nicht. Eine Aktie, die er partout nicht halten wollte, war die der Facebook-Mutter Meta Platforms. Aber es war fast unmöglich, einen ESG-Fonds ohne große Technologieunternehmen zu finden, sagte er. „Ich will nicht übertreiben, aber ich hatte fast das Gefühl, dass man mich reingelegt hat. Ich dachte, ich investiere auf der ethischeren Seite”, sagte er. „Und dann fragt man sich: Warum ist Facebook da drin?“
ESG-Fondsmanager mögen gute Gründe dafür haben, wie sie ihre Portfolios aufbauen, doch die Kluft zwischen den komplexen Strategien, die sie anwenden, und den Erwartungen, die normale Anleger haben, wird allmählich zum Problem. So hat beispielsweise die Investmentsparte der Danske Bank in diesem Jahr ein ESG-Portfolio angepasst, nachdem sich Verbraucherschützer über die darin enthaltenen Aktien von Unternehmen im Bereich fossiler Brennstoffe beschwert haben. Danske wies zunächst darauf hin, dass man sich an die Regeln halte, nahm die fraglichen Anlagen schließlich jedoch raus.
Finanzfachleute, die mit Kleinanlegern zu tun haben, kennen deren Enttäuschung. Bei jenen „herrscht Verwirrung auf breiter Front” zum Thema ESG, sagt der leitende Analyst Dan Lane vom britischen Online-Broker Freetrade.
Branchenkenner geben zu, dass ESG nach wie vor schwer zu definieren ist. „Was ist ein ESG-Fonds? Ich habe buchstäblich keine Ahnung”, sagt Gemma Woodward, Leiterin der Abteilung für verantwortungsbewusste Investments bei Quilter Cheviot, die maßgeschneiderte ESG-Produkte für professionelle und private Kunden erstellen.
Baker verzichtete schließlich ganz auf ESG und investierte stattdessen in einen breit anlegenden Indexfonds. Er gehört womöglich zu den wenigen, die sich überhaupt die Mühe gemacht haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen, wie eine aktuelle Umfrage von Charles Schwab zeigt. Zwei Drittel der Kleinanleger in Großbritannien interessiert es nicht, ob sie nachhaltig investieren. Rendite ist das Entscheidende.
Sollten sich diese Umfrageergebnisse als korrekt erweisen, könnte es mit dem schnellen Wachstum bei ESG bald abrupt vorbei sein.
Denn die ESG-Giganten hinken hinterher: Der weltweit größte börsengehandelte ESG-Fonds – der iShares ESG Aware MSCI USA von Blackrock mit einem Volumen von knapp 21 Mrd. Dollar (20,1 Mrd. Euro) – hat in diesem Jahr fast ein Viertel seines Wertes verloren und entwickelte sich schlechter als der MSCI World Index. Er hält Aktien von Meta, Exxon Mobil und Chevron. Ironischerweise hat er womöglich gerade deshalb so schlecht abgeschnitten, weil er in die großen Techwerte investiert, die Baker nicht haben wollte.

Ökonomen der Europäischen Zentralbank erklärten jüngst, der Beitrag der ESG-Investmentbranche zum Kampf gegen den Klimawandel sei nach wie vor unklar. Und die Aufsichtsbehörden zeigen Zähne. Letzten Monat gab es eine Razzia bei der DWS. Und über das Wochenende wurde bekannt, dass die US-Börsenaufsicht SEC potenziell dubiosen ESG-Behauptungen bei Goldman Sachs nachgeht.
Während sich normale Menschen fragen, ob sich ESG lohnt, dürfte ein neuer regulatorischer Rahmen das Leben für die Fondsbranche schwerer machen. Die Europäische Union wird von Finanzberatern ab August verlangen, dass sie sicherstellen, dass Privatanleger genau das bekommen, was sie von ihrem ESG-Investment erwarten. In der Praxis muss ein Anlageberater sicherstellen, dass er weiß, ob ein Kunde Meta in einem ESG-Fonds für deplatziert hält. Anwälte, die die Fondsbranche beraten, versuchen derweil, ihre Kunden auf die kommenden Risiken vorzubereiten.
„Es besteht die große Sorge, dass Kleinanleger die verschiedenen Facetten der Nachhaltigkeit nicht verstehen”, sagt Lucian Firth, Partner bei der Anwaltskanzlei Simmons & Simmons in London, der ESG-Fondsmanager berät. „Was ist Nachhaltigkeit? Für jeden bedeutet es etwas anderes. Sind sich Kleinanleger darüber im Klaren? Sie haben vielleicht im Kopf, dass diese Produkte Gutes bewirken sollen, und sie sehen dann diese Werbung, dass ihr Geld etwas Gutes bewirken und ihnen Rendite bringen kann, aber was steckt eigentlich genau dahinter?” Im Ergebnis werden die Rechtsrisiken steigen, sagte er.

Europas wichtigster Bankenverband EBF hat bereits vor einer „großen Rechtsunsicherheit” gewarnt sowie vor „großer Verwirrung” bei den Kunden. Der Verband setzt sich dafür ein, dass die neuen Regeln verschoben werden. Die Behörden haben jedoch bisher keine Anstalten gemacht, solchen Forderungen nachzukommen.
Verbraucherschützer warnen, jeder Aufschub wäre für Kleinanleger von Nachteil. Der Geschäftsführer der Kleinanlegervereinigung Better Finance Guillaume Prache sagt, die einmalige Gelegenheit, die Rechte von Kleinanlegern zu stärken, werde womöglich „verwässert”.
Vermögensverwalter, die jetzt nicht „wie aufgescheuchte Hühner herumlaufen”, haben wahrscheinlich das Ausmaß der neuen Regeln ab August nicht verstanden, so Eric Pedersen, Leiter der Abteilung für verantwortungsvolle Investitionen bei Nordea Asset Management.
Nach Ansicht von Woodward von Quilter Cheviot wird es wahrscheinlich nicht ausreichen, dass Berater Kleinanlegern einen Fragebogen aushändigen. Ziel sei es, „tatsächlich ein Gespräch zu führen”, sagte sie. Es gebe viele verschiedene Möglichkeiten, ESG zu berücksichtigen, und die Kunden müssten sich über eine breite Palette von Kategorien informieren.
Eric Balchunas, leitender ETF-Analyst bei Bloomberg Intelligence, fürchtet, dass ESG-Anlagen von einem Hype überlagert werden. Anleger hielten die Konstruktion letztlich für zu widersprüchlich.
Mehr Artikel wie diesen finden Sie auf bloomberg.com
©2022 Bloomberg L.P.