Wie viel von ihrem Ersparten können Rentnerinnen und Rentner jedes Jahr ausgeben, ohne dass ihnen im Ruhestand das Geld ausgeht? Eine entscheidende Frage für die private Altersvorsorge – heute vielleicht mehr denn je. Besonders im angloamerikanischen Raum ist die sogenannte Vier-Prozent-Regel dafür ein beliebter Richtwert. Erstmals berechnet vom US-Finanzberater William Bengen Anfang der 90er-Jahre und bestätigt von Forschenden der Trinity Universität, zielt die Methode auf Folgendes ab:
Ruheständler sollen jedes Jahr Geld von einem ausgewogenen Portfolio aus Aktien und Anleihen abheben. Und zwar so viel, dass ihr Vermögen für regelmäßige Auszahlungen über einen Zeitraum von 30 Jahren ausreicht. Unabhängig von Marktschwankungen.
Das Ganze funktioniert so: Zunächst müssen Anlegerinnen und Anleger den Anfangswert ihres Ruhestand-Portfolios schätzen. Wie viel Geld benötigen sie mindestens pro Jahr? Von diesem Anfangskapital können Anleger jährlich vier Prozent entnehmen, angepasst um die Inflation. Wer also im ersten Jahr 12.000 Euro entnimmt, muss bei einer Inflationsrate von zwei Prozent im zweiten Jahr 12.240 Euro entnehmen und so weiter. So soll die Kaufkraft erhalten bleiben. Doch wie sinnvoll ist diese Regel im Jahr 2024?
Inflation kann Renten-Plan durcheinanderbringen
„Auf dem Papier klingt das erst mal sehr einfach“, sagt Sandra Klug, Anlageexpertin bei der Verbraucherzentrale Hamburg. „Doch die Regel vernachlässigt einige Punkte und kommt, wenn überhaupt, nur für eine Handvoll finanziell gut gebildeter, gutverdienender und risikoaffiner Menschen infrage“, sagt sie. So müssen Anleger, die später die Vier-Prozent-Regel anwenden wollen, etwa eine vergleichsweise hohe Summe ansparen. „Eine Entnahme von 1000 Euro monatlich, wenn es zusätzlich eine staatliche Rente gibt, ist ein realistisches Minimum für das erste Jahr“, sagt Klug. Dafür müssten Anleger ein Anfangsvermögen von mindestens 500.000 Euro ansparen.
Außerdem ist der Zeitpunkt der Erstentnahme entscheidend. „Wenn sie in Rente gehen, aber die Kurse gerade im Keller sind, haben Anlegende ein Problem, weil die Summe zu Beginn eine größere Rolle spielt als am Ende“, sagt sie. Dieses Problem wird auch Renditereihenfolge-Risiko genannt. Anleger, die sich voll auf die Zusatzeinnahme verlassen, gehen Klug zufolge daher ein hohes Risiko ein.
„Auch eine für einen längeren Zeitraum hohe Inflation, wie wir sie gerade erlebt haben, bringt den Plan durcheinander“, so Klug. Damit das Ersparte trotzdem reicht, müssten eine Deflation oder große Kursgewinne folgen, die das Ganze wieder ausgleichen. Aber darauf könne man sich als Rentner oder Rentnerin schwer verlassen.
Wie sehr die allgemeine Marktlage die Entnahmesumme beeinflussen kann, zeigen auch Berechnungen des Finanzanalysten Morningstar. Im Gegensatz zu Regel-Erfinder Bengen, der seine Berechnungen auf historische Daten stützte, nutzte Morningstar auch Kurs- und Inflationsprognosen. Beginnend im Jahr 2021, als Anleiherenditen historisch niedrig und Aktienbewertungen sowie Inflationsprognosen hoch waren, hätten Anleger Morningstar zufolge nur 3,3 Prozent entnehmen dürfen. Für das Jahr 2023 schätzen die Analysten angesichts geringerer Inflationsprognosen und höheren Anleihen-Renditen aber wieder vier Prozent.
Wegen dieser Schwankungen lautet die Empfehlung von Morningstar, die Entnahmequote nicht vollständig an die Inflation anzupassen. Besser sollte sie etwa 75 Prozent der aktuellen Inflationsrate widerspiegeln, um auf Nummer sicher zu gehen.
Kein Platz für ungeplante Mehrkosten
Die Regel bedenkt außerdem keine ungeplanten Mehrkosten. „Wenn etwa der Kühlschrank kaputtgeht oder man eine große Reise machen möchte, gibt es keinen Spielraum“, erklärt Klug. Und die Verbraucherschützerin kritisiert einen weiteren Punkt: „Jedes Jahr die Summe auf eigene Faust anpassen und neue Überweisungsaufträge einrichten, ist aufwendig und gerade für Menschen ohne finanzielle Bildung oder Erfahrung gar nicht so leicht.“
Klug kennt solche Probleme aus der täglichen Beratung. „Was einem mit 65 noch unkompliziert erscheint, sieht mit 85 oder 90 ganz anders aus.“ Doch wer sich Hilfe bei einer Expertin sucht, muss die Kosten für diesen Service von den angepassten Prozent abziehen oder eine höhere Summe entnehmen. Nur steigt auch damit das Risiko, dass das Ersparte doch keine 30 Jahre reicht.
Unterm Strich empfiehlt Klug die Vier-Prozent-Regel nicht. „Sie ist den meisten zu kompliziert und zu unflexibel.“ Anlegerinnen und Anleger sollten sich lieber frühzeitig unabhängig beraten lassen. „Ein Bankauszahlplan kombiniert mit Fonds, Fest- und Tagesgeld ist oft eine passende Variante“, so Klug. Auch darum muss man sich ab und zu kümmern, aber nicht allzu intensiv.