In unserer Reihe Capital erklärt geben wir einen komprimierten Überblick zu aktuellen Wirtschaftsthemen. Diesmal: Krise der deutschen Autoindustrie – mit Nils Kreimeier , Leitender Redakteur und Branchenexperte bei Capital.
Viele reden über die Krise der deutschen Autoindustrie. Ist sie schon da, oder steht sie erst vor der Tür?
Sicherlich sind für die Branche die goldenen Jahre seit dem Ende der Finanzkrise vorbei. Wenn man aber die Zahlen betrachtet, ergibt sich ein zwiespältiges Bild: Auf der einen Seite verzeichnen alle deutschen Autohersteller 2019 steigende Absätze, zumindest auf dem deutschen Markt. Die Margen und Gewinne sinken, aber das ist weder eine Katastrophe noch ein Signal, das man in anderen Branchen bereits als Krise bezeichnen würde. Auf der anderen Seite gibt es Entlassungswellen. Denn bei sinkenden Renditen schlagen die Investitionskosten umso stärker durch. Und die sind immens hoch, weil Zukunftsantriebe entwickelt werden müssen. Dennoch ist es anhand der Zahlen nicht eindeutig, ob man jetzt schon das Wort von einer großen Krise in den Mund nehmen sollte.
In Deutschland wurden im vergangenen Jahr rund 3,6 Millionen Neuwagen zugelassen – in etwa so viel wie im Jahr davor. Die Zeichen stehen also noch auf Stabilität?
Das kann man so sehen. Es sind absolut sogar mehr Diesel zugelassen worden als im Vorjahr . Aber die Angaben sind auch mit Vorsicht zu genießen. Sie enthalten nämlich einen großen Anteil an Eigenzulassungen der Hersteller, darauf weisen viele Experten auch hin. Es wurden auf eigene Rechnung viele Spritschlucker auf Halde zugelassen, weil ab 2020 in der EU höhere CO2-Flottenvorgaben – also strengere Abgasnormen – gelten. Dieser Trick schönt das Gesamtbild. Auch der Anteil an gewerblichen Zulassungen ist 2019 ziemlich hoch, weil für Dienstwagenflotten das Dieselauto immer noch die erste Wahl ist.
Etwa zwei Drittel des Umsatzes erwirtschaften deutsche Autobauer im Ausland. Bis zu 40 Prozent davon in China. Wird die Krisenanfälligkeit mancher Märkte jetzt zur Hypothek?
Eine hohe Abhängigkeit von einem Markt ist immer ein Problem, unabhängig von Handelskriegen, rückläufiger Konjunktur oder jetzt der Coronavirus-Epidemie in China. Letztere verschärft natürlich die Problemlage bei den Herstellern. Der chinesische Markt hat sich aber schon vor dem Ausbruch relativ anfällig gezeigt. Darunter leidet Volkswagen mit etwa 40 Prozent der Verkäufe in China am meisten; Daimler und BMW liegen darunter. VW hat einen großen Teil seiner Investitionen auf China ausgerichtet und orientiert sich am stärksten an den Quoten, die China für den Anteil an Elektroautos vorgibt. Das ist verständlich, birgt aber eben auch ein Risiko, wenn der Markt kurzfristig wegbricht.
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Da hat der Markt also die Strategie vorgegeben?
Die Volksrepublik hat den Herstellern Elektro-Quoten vorgeschrieben und die Einführung lange gefördert, was jetzt allerdings zurückgefahren wird. Volkswagen wollte im großen Stil Elektroautos entwickeln, die auch dort reüssieren. So macht man sich natürlich auch abhängig von der chinesischen Politik und anderen Gefahrenlagen, obwohl VW seit Jahren zugleich bemüht ist, das abzufedern. Es ist aber schwer, wenn man mit Europa und Amerika zwei Märkte hat, die relativ gesättigt sind, und einem in den USA zudem ein fettes Diesel-Problem nachhängt. Andere Wachstumsmärkte in dem Ausmaß von China gibt es nicht.
Inwiefern sind die Probleme der Branche eigentlich hausgemacht? Viele sagen, Deutschland habe den Einstieg in die Zukunft verpasst ...
Das kommt darauf an, was man als Zukunft bezeichnet: Nehmen wir die drei Dimensionen Elektromobilität, alternative Lösungen zum Autobesitz und Fahrzeuge als Softwareplattform in einer digital vernetzten Welt. Dass die Branche das verschlafen hätte, stimmt nur zum Teil. So hat Daimler mit Car2Go das größte Carsharing-Unternehmen der Welt aufgebaut und mit Dutzenden von Standorten Erfahrung gesammelt. Nur ist damit zumindest bisher kein Geld zu verdienen.
Dann muss man differenzieren: BMW hat bereits 2013 mit dem i3 eigenständig ein Elektromodell entwickelt und davon bis heute über 160.000 Exemplare verkauft. Sie haben also sehr früh ein komplett eigenes Konzept entwickelt mit neuem Design, Materialien, Leichtbauweise usw. Geschlafen haben die Hersteller vielleicht am ehesten beim vernetzten Fahrzeug. Es wird derzeit wahnsinnig investiert, um da nachzuziehen. Ob hier das große Zukunftsmodell für Hersteller liegt, wird sich in den nächsten Jahren klären.
Allein am frühen oder späten Einstieg in die Elektromobilität lässt sich ein drohender Untergang also nicht festmachen?
Man muss ja ehrlicherweise auch sehen, dass sich mit Elektroautos bisher kein Geld verdienen lässt. Niemand verdient damit, auch nicht die, die früh angefangen haben wie etwa BMW. Auch Volkswagen wird lange brauchen. Die Kult-Firma Tesla hat seit der Gründung in den USA vor 17 Jahren kein einziges Geschäftsjahr ohne Verlust abgeschlossen. Die Probleme der Hersteller lassen sich mit einem zu späten Einstieg in die Elektromobilität also nur schwer begründen. Am geschicktesten hat es bis jetzt noch Toyota angestellt. Die Japaner haben sich weniger auf E-Autos oder Plug-in-Hybride gestürzt, also auf Fahrzeuge mit einer Kombination aus Verbrennungs- und Elektromotoren, die man an der Steckdose aufladen kann. Sondern mehr auf den reinen Hybrid, bei dem der Elektromotor den Benzinmotor unterstützt. Das verkauft sich gut und ist für Toyota rentabel.
Toyota ist somit ein Beispiel, dass Schadstoffarmut auch anders geht als mit reinem Elektroantrieb...
Genau. Toyota setzt ja auch noch auf den Wasserstoffantrieb und hat mit dem Mirai ein Serienmodell mit Brennstoffzelle entwickelt.
In diesem Jahr werden die EU-Abgasnormen verschärft. Die Bundeskanzlerin hatte in Brüssel 2013 strenge Auflagen verhindert. Hat dieser Protektionismus der Branche am Ende einen Bärendienst erwiesen?
Ich glaube schon. Wenn früher ein konkreter und nachvollziehbarer Preis für den CO2-Ausstoß festgelegt worden wäre, hätte die Entwicklung Unternehmen dazu gezwungen, diesen auf irgendeine Weise früher einzudämmen. Entweder über die Entwicklung batteriebetriebener Autos, oder indem man sich stärker darauf konzentriert, den Ausstoß von Verbrennern zu minimieren – was ja offenbar geht. Entscheidend ist doch, diese Flottenvorgaben transparent und richtig zu gestalten. Momentan zum Beispiel werden E-Autos als Null-Emissionsautos betrachtet. Dabei kann man doch total infrage stellen, ob sie das bei dem heutigen Strom-Mix sind, nachdem sie schon vor dem Losfahren in der Herstellung mehr CO2-Ausstoß verursacht haben als ein handelsüblicher Diesel. Das kann sich ändern, stellt aber im Moment noch eine ziemliche Belastung dar. Fraglich ist also: War das der richtige Anreiz, oder hätte man besser ehrlich gerechnet, mit wieviel CO2-Emissionen als Ausgangspunkt die Ingenieure umzugehen haben? Die politische Lobbyarbeit war da nicht hilfreich.
Wie unterscheiden sich die deutschen Anbieter? Wer ist besser oder schlechter für die Zukunft aufgestellt?
Die Antworten sind sehr unterschiedlich. Volkswagen verfolgt auf Konzern- und Markenebene jetzt eine sehr stark auf Elektromobilität fokussierte Strategie. Der Konzern hat ein komplett eigenes Auto entwickelt, das als elektrischer Nachfolger des Golf oder Käfer als Massenauto in diesem Jahr auf den Markt kommen soll. Es wird wahnsinnig viel Geld investiert in neue Fabriken, in denen ausschließlich E-Autos produziert werden. Das geschieht einerseits mit Blick auf EU-Vorgaben und den chinesischen Markt. Es birgt zugleich aber natürlich auch ein hohes Risiko, weil niemand wirklich weiß, wie sich der Markt entwickelt und ob sich die E-Mobilität vor allem in Europa und den USA so entwickelt, wie wir jetzt glauben.
BMW fährt eine flexiblere Strategie und behält in der Fertigung die Möglichkeit, auf einer Linie Elektro- und weiterhin Verbrennerfahrzeuge zu produzieren. Man hat den Eindruck, der Konzern zieht da die Konsequenz aus seinen Erfahrungen mit dem i3, der mit teurem Aufwand eigens entwickelt wurde. Bei Daimler verhält es sich ähnlich wie bei BMW, was die Produktionsanlagen betrifft. Aber man hat den Eindruck, der Hersteller traut der Sache mit dem E-Auto nicht so und würde am liebsten weiter seine Verbrennungsmotoren optimieren. Daimler wirkt unentschlossen. Es gibt natürlich in Indien oder Brasilien weiter große Märkte in nächsten Jahrzehnten, aber in Europa und einigen US-Bundesstaaten wie Kalifornien besteht da ein gewaltiges Risiko.
Kann es sein, dass VW, Daimler oder BMW in Europa und weltweit künftig von anderen Wettbewerbern aus dem Feld geschlagen werden?
Das ist schwer zu sagen. Volkswagen investiert sehr stark, und wenn sich Prognosen bewahrheiten, dass E-Autos bis 2025 einen Marktanteil von 25 bis 30 Prozent erreichen werden, dann werden die Wolfsburger allein dank ihrer Größe mitspielen können. Die Skalenerträge werden es erlauben, die Autos halbwegs bezahlbar zu produzieren. Dann ist Tesla vielleicht das Apple, aber VW das Samsung, das E-Mobilität als Massenware anbietet.
Zugleich ist vorstellbar, dass sich für Daimler und BMW eine Nische in der Premiumsegment bietet – da kann man das Spitzen-Modell auch mal für 10.000 Euro Aufpreis als E-Auto anbieten. Ob die Nische für alle Hersteller ausreicht, um am Markt bestehen zu können, ist offen. Eine Konsolidierung im Premiumsegment ist nicht auszuschließen. Aber dass die Branche von ausländischen Herstellern überrollt wird, sehe ich eher nicht. Wer sollte das sein? Amerikaner und Franzosen haben das gleiche Problem, Toyota muss auch investieren. Und Tesla profitiert zwar von seinem Kultstatus und Investoren, die viel Geld zuschießen. Aber sie haben auch noch kein Geld verdient, und mit Schwierigkeiten zu kämpfen, in großen Stückzahlen verlässliche Autos zu bauen. Und die Margen werden generell geringer ausfallen als bei Verbrennungsmotoren.
Kann man also das Fazit ziehen, dass die Krise zwar nicht existenziell ist, aber künftig weniger Menschen weniger und teurere Autos bauen werden?
Zumindest wird man bei Elektroautos mittelfristig für die gleiche Menge Auto mehr bezahlen müssen. Ein E-Smart mit weniger Reichweite als ein Benziner kostet mehr Geld. Das wird wegen des Kostenblocks der Batterie auch noch ziemlich lange so bleiben. Und was die künftig denkbaren Entlassungswellen angeht, da ist eine Prognose schwer. Niemand weiß, inwieweit wegfallende Jobs in der traditionellen Fahrzeugproduktion durch neue Stellen in IT und Software vielleicht aufgefangen werden.
Das sind die meistverkauften PKW nach Marken in Europa. (Quelle: JATO Dynamics)
Meistverkaufte Automarken in Europa
Abgasskandal hin oder her. Volkswagen führt 2019 die Top 25 der meistverkauften Personenkraftfahrzeuge in Europa nach Marken an. 1,77 Millionen wurden EU-weit verkauft. Der erste VW-Stromer basiert auf einer Elektrofahrzeug-Plattform und orientiert sich optisch an der 2017 gezeigten Studie VW ID.
Der führende französische Automobilhersteller hat 2019 in den 27 EU-Ländern 1,06 Millionen Neuwagen auf die Straße gebracht. Das meistverkaufte Modell Clio ist in der nunmehr fünften Generation des Kleinwagens auf dem Markt. Sie wurde auf dem 89. Genfer Auto-Salon im März 2019 vorgestellt.
Der amerikanische Autobauer landet mit einer knappen Million verkauften Neuwagen 2019 auf Platz drei in Europa. Zeitweise war die achte Generation des Ford Fiesta absoluter Beststeller noch vor dem VW Golf. Produziert wird der Fiesta im Werk Köln-Niehl.
Von Peugeot wurden im vergangenen Jahr mehr als 976.000 Exemplare in der EU verkauft. Dabei führt der Kleinwagen Peugeot 208 II vor den größeren Modellen 2008 oder 3008. Der 208 II wird seit Juni 2019 auf dem europäischen Markt verkauft. Erstmals gibt es das Modell 208 nur fünftürig. Die Elektroversion mit dem Namen e-208 soll 2020 folgen.
Der stolze Stern rangiert auf Platz fünf mit 912 000 verkauften Limousinen. Vor allem die Stuttgarter A-Klasse legte 2019 Jahr kräftig zu. Der sportliche Mercedes-Benz W 176 ist ein Modell, das der Kompaktklasse zugeordnet wird und auf dem Genfer Auto-Salon im März 2012 vorgestellt wurde; das Nachfolgemodell ist seit 2018 auf dem Markt.
Im Premiumsegment ist BMW wie auch Mercedes so leicht nichts anzuhaben an der Spitze. Die Münchener fanden knapp 828.000 Käufer. Der G20 ist eines der jüngsten Modelle, das seit März 2019 verkauft wird. Produktionsorte sind das Stammwerk in München, das Werk Tiexi im chinesischen Shenyang und das neue Werk San Luis Potosí in Mexiko.
Die Traditionsmarke Opel, die einst zu General Motors gehörte und im August 2017 vom französischen Hersteller PSA übernommen wurde, setzte 2019 EU-weit knapp 814 000 Fahrzeuge um und belegt Rang sieben. Topseller ist das Modell Corsa, seit 2019 als Variante F am Markt, oder E mit Elektromotor.
Die tschechische Marke wird – unter dem Dach von Volkswagen – in diesem Jahr 125 Jahre alt und bekommt zum Jubiläum gute Verkaufszahlen aus dem Vorjahr mit: 757 000 waren es. Das führende Modell, der Skoda Octavia IV, ging 2019 in die vierte Generation. Der Mittelklassewagen wird in Tschechien, Indien und China gebaut.
Von der Klein- bis zur Oberklasse setzte der Hersteller mit Sitz in Ingolstadt in Europa 742.000 Fahrzeuge ab und kommt damit auf Rang neun. Die A4-Mittelklasse ist die erfolgreichste Baureihe von Audi, die 1994 ihr Debüt feierte und seitdem als elegante Mittelklasse-Limousine rege Nachfrage findet.
Als einziger asiatischer Hersteller kommt Toyota mit 735.000 verkauften PKW noch unter die Top Ten in Europa. Der weltgrößte Autobauer aus Japan setzt hier vor allem seinen Kleinwagen Yaris ab, der für den europäischen und nordamerikanischen Markt entwickelt wurde. Seit 2013 gibt es ihn als Hybrid mit Ottomotor und Elektromotoren kombiniert.