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Interview Was der Brexit für die britische Wirtschaft bedeutet

Christian Odendahl ist Chefökonom am Centre for European Reform
Christian Odendahl ist Chefökonom am Centre for European Reform
© dpa
Noch sind die Auswirkungen des bevorstehenden EU-Austritts auf die britische Wirtschaft moderat. Doch das täuscht, meint der Ökonom Christian Odendahl: Nur ein sehr weicher Brexit könne die Wirtschaft stabilisieren

Christian Odendahl ist Chefvolkswirt des Londoner Centre for European Reform (CER). Vorher arbeitete er als leitender Ökonom für Roubini Global Economics und als Marjorie Deane Financial Journalism Fellow beim Wirtschaftsmagazin The Economist.

Capital: Herr Odendahl, wie hat sich der bevorstehende Brexit bisher auf die britische Wirtschaft ausgewirkt?

CHRISTIAN ODENDAHL: Es kommen zwei Dinge zusammen. Erstens die kurzfristigen Folgen des Brexits und zweitens die Vorbereitungen auf die langfristigen Folgen, beispielsweise wenn Firmen aufhören zu investieren. Das zu unterscheiden, ist natürlich extrem schwer, weil es gleichzeitig passiert. Nach unseren Berechnungen hat der Brexit die britische Wirtschaft schon jetzt ungefähr 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gekostet. Das heißt, hätte Großbritannien nicht für den Brexit gestimmt, wäre die britische Wirtschaft um 2,3 Prozent größer.

Das heißt, die negativen Prognosen haben sich schon bewahrheitet?

Nicht ganz. Die unmittelbaren, kurzfristigen Prognosen waren meistens zu negativ. Ich glaube, es wurde unterschätzt, wie positiv die britischen Konsumenten auf das Brexit-Votum reagieren. Die Verbraucher haben im Prinzip ihre Spartätigkeit halbiert von knapp zehn Prozent Haushaltsersparnis auf unter fünf Prozent. Zudem füllen Unternehmen ihre Lager, beispielsweise mit Vorräten für die Produktion. Das hat natürlich auch einen kurzfristigen positiven Effekt. Der kurzfristige Effekt war also weniger negativ, als viele gedacht haben. Allerdings muss man auch sagen: 2017 und 2018, also die Zeit nach dem Referendum, waren für die Weltwirtschaft sehr gute Jahre. Die gute wirtschaftliche Entwicklung hat die Auswirkungen des Brexits zusätzlich kaschiert.

Sind denn bereits Firmen aufgrund des Brexits abgewandert?

So schnell geht das nicht. Um abzuwandern, müssen Pläne gemacht werden. Es gibt jetzt schon erste Bewegungen, aber es ist nicht so, dass wir einen großen Exodus erleben. Der Brexit hat ja noch nicht stattgefunden, und seine Form ist völlig unklar.

Das heißt, die Firmen warten aktuell erst einmal ab?

Genau. Die Finanzbranche beispielsweise ist momentan vor allem damit beschäftigt, sich auf verschiedene Formen des Brexits vorzubereiten. Was wohin verlagert wird, hängt auch davon ab, wie hart der Brexit am Ende sein wird. Die Banken müssen überlegen, wo sie ihr europäisches Geschäft weiter fortführen können, ohne den Zugang zu europäischen Kunden zu verlieren. Deshalb müssen in der Finanzbranche verschiedene Pläne B gemacht werden. Man kann auch schon eine Tendenz erkennen: Die Banken gehen eher nach Frankfurt, die Investmentfonds eher nach Dublin und Luxemburg.

Welche Auswirkungen hat diese abwartende Haltung auf das Geschäft?

Die Unsicherheit und die Planung absorbieren sehr viel Kraft bei den Unternehmen. Das schadet natürlich der langfristigen Planung für das eigentliche Geschäft. Zudem habe ich schon von mehreren Unternehmen gehört, dass es im Moment schwierig ist, hoch talentiertes Personal nach Großbritannien zu holen. Beispielsweise, weil für Menschen aus der EU die Unsicherheit zu groß ist oder weil durch den Brexit und das ganze politische Theater, die Neigung nach Großbritannien zu gehen gesunken ist.

Welche negativen Effekte auf die britische Wirtschaft erwarten Sie vom Brexit?

Die Auswirkungen auf den Dienstleistungssektor und die Industrie werden vermutlich beide negativ sein. Bisher war es ein Kennzeichen der EU, dass Unternehmen Dienstleistungen über Grenzen hinweg anbieten können. Außerhalb der EU geschieht das meist über die Gründung einer Niederlassung. Wenn die britischen Dienstleistungsunternehmen den Zugang zum Binnenmarkt verlieren, müssen sie zumindest teilweise in die EU abwandern. Die Industrie verliert die volle Integration in die Lieferketten, die durch Europa gehen. Letzteres ist vielen oft nicht so klar, glaube ich: wie oft Bauteile für ein Auto über Grenzen hinweg gehandelt werden.

Wie werden sich die japanischen Autohersteller im Vereinigten Königreich nach dem Brexit verhalten?

Die Japaner wurden in den 1980er-Jahren nach Großbritannien gelockt, unter anderem mit dem Versprechen, damit immer Teil des europäischen Binnenmarktes zu sein. Dieses Versprechen ist jetzt in Gefahr. Dabei sind die japanischen Autobauer, wie andere Hersteller auch, natürlich unter konstantem Druck ihre Kosten zu kontrollieren und eventuell die Produktion zu restrukturieren. Der Brexit wird für die Japaner deshalb vermutlich eine willkommene Entschuldigung sein, ihre Restrukturierung in Europa auf Großbritannien zu konzentrieren.

Gibt es auch Branchen oder Firmen, die vom Brexit profitieren werden oder es vielleicht schon tun?

Das hängt wieder davon ab, wie sich der Brexit im Endeffekt auswirkt. Eine These, die ich persönlich nicht für richtig halte, die aber einige Anhänger hat, besagt, dass der Finanzsektor in London ein zu großes Gewicht innerhalb der britischen Wirtschaft hat. Das habe dazu geführt, dass andere Sektoren sich nicht behaupten konnten und das britische Pfund tendenziell überbewertet wurde. Sollte der Brexit jetzt zur Folge haben, dass der Finanzsektor zusammenschrumpft, dann würden andere Sektoren – zum Beispiel die Industrie – einen Impuls bekommen allein schon dadurch, dass das Pfund dauerhaft niedriger bewertet würde.

Was spricht gegen diese These?

Was dagegen spricht ist, dass auch die Industrie sehr stark in moderne Lieferketten eingebunden ist. Diese Lieferketten funktionieren im Rahmen des europäischen Binnenmarktes. Ein weicher Brexit, der diese Einbindung der Industrie erhält aber Dienstleistungen ausschließt – wie in den Verträgen zwischen der EU und der Schweiz – könnte der Industrie diese Vorteile bringen. Sollte Großbritannien aber einen harten Brexit anstreben, wären solche Lieferketten unterbrochen, was es der Industrie deutlich schwerer machen würde. In dem Fall sehe ich keinen positiven Effekt, sondern einen recht gleichmäßig negativen für Industrie und Dienstleistungen.

Gibt es schon Zahlen darüber, wie sich die Migration seit dem Referendum entwickelt hat? Immerhin war das ja für viele Briten ein Kernthema.

Der Effekt war hier sehr drastisch. 2015 und 2016 wurde die Migration in Umfragen regelmäßig als das größte Problem des Landes angesehen. Seit dem Referendum hat sich das verändert, nur noch zehn bis 20 Prozent der Briten geben die Migration als Hauptproblem an. Heute sind der Gesundheitssektor und der Brexit selbst wichtiger. Die Migration hat sich deutlich verändert. Bis zum Referendum war Großbritannien eines der Hauptzielländer für Migranten aus Zentral- und Osteuropa. Diese Wanderungsbewegung ist heute negativ: Es gibt eine Nettoauswanderung von Bürgerinnen und Bürgern dieser Länder aus Großbritannien. Dafür ist die Migration aus Nicht-EU-Staaten gestiegen, vermutlich um den Rückgang der Zuwanderung aus der EU zu kompensieren. Denn für Sektoren, die auf Migranten angewiesen sind, ist ein Rückgang extrem schwierig. Das sind ähnliche Sektoren wie bei uns. Das britische Gesundheitssystem basiert im Prinzip darauf, dass es einen Zuzug von Ärzten und Krankenpflegern gibt.

Wie schätzen Sie die Zukunft der britischen Wirtschaft nach dem Brexit ein?

Die wenigen positiven Nachrichten aus Großbritannien bisher – z.B. dass der britische Konsument deutlich stärker eingekauft hat oder dass die Unternehmen ihre Lager gefüllt haben – sollte man nicht überbewerten. Die Abschwächung des Pfunds hat bisher auch wenig gebracht, außer Inflation. Erst nach dem tatsächlichen Brexit wird sich zeigen, inwiefern die britische Wirtschaft sich auf die neue Situation einstellen kann. Der britische Arbeitsmarkt ist sehr flexibel, das hat den Vorteil, dass die Arbeitslosigkeit meist nicht so stark steigt. Allerdings hat das auch den Nachteil, dass das Lohnwachstum in den letzten Jahren sehr mäßig war. Das würde sich wahrscheinlich so fortsetzen und den Konsum drücken. Ich bin grundsätzlich nicht sonderlich optimistisch, was die Auswirkungen für die britische Wirtschaft anbelangt – es sei denn, es kommt zu einem sehr weichen Brexit, einer Art Norwegen- oder Schweiz-Lösung, bei der der Großteil der britischen Wirtschaft im gemeinsamen Markt verbleibt. Ein weicher Brexit würde die britische Wirtschaft nach einer langen Phase der Unsicherheit wieder deutlich stärken, und das Pfund nach oben treiben. Das hoffe ich zumindest, denn ich werde weiter in Pfund bezahlt.

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