Noch vor wenigen Wochen prognostizierten Ökonomen weltweit für die zweite Hälfte des Jahres 2021 einen kraftvollen Schub des Konjunkturmotors mit hohen Zuwachsraten. Das zunehmend eingedämmte Pandemiegeschehen ließ die Nachfrage – nicht zuletzt aufgrund wirksamer Impfstoffe und staatlicher Hilfsprogramme – wieder massiv ansteigen und nährte die Hoffnung auf eine rasche Erholung. Doch mittlerweile bremsen gravierende Probleme in den Produktions- und Lieferketten den Aufschwung zumindest vorübergehend spürbar aus: Lieferschwierigkeiten bei wichtigen Rohstoffen, Halbleitern und Vorprodukten, fehlende Arbeitskräfte vor allem in den USA und in Großbritannien sowie der anhaltende Stau im Containerschiffsverkehr und auf den Straßen begrenzen das Angebot. Die Folgen sind leere Regale und ein verstärkter Preisdruck. Dies lässt die Inflation als Druckventil höher und mit Blick auf das Jahresende hartnäckiger ausfallen als erwartet.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Trotz der Konjunkturabschwächung in den USA, im Euroraum und in Japan rechnen wir im kommenden Jahr noch immer mit einem überdurchschnittlichen Wachstum. Die Nachfrage dürfte trotz neuer Risiken durch Virus-Varianten auch in den kommenden Quartalen robust bleiben. Gestützt wird diese Entwicklung durch einen deutlichen Anstieg der Löhne, die enormen Ersparnisse der privaten Haushalte in den letzten anderthalb Jahren sowie die nach wie vor günstigen Finanzierungsbedingungen. So gehen wir von einer weiteren Stärkung des Privatkonsums einerseits und wachsenden Unternehmensinvestitionen andererseits aus.
Vorausgesetzt die Angebotsbeschränkungen sind tätsächlich hauptverantwortlich für die Konjunkturabkühlung und den Anstieg der Inflation, dürfte deren Beseitigung in den kommenden Quartalen zu einer Entspannung führen: Versäumte Wirtschaftsaktivitäten könnten teilweise nachgeholt werden, der aktuellen Inflationsdruck würde gedämpft und die Wachstumsaussichten für die Industrieländer sich aufhellen. Einen Vorgeschmack auf die zu erwartenden Effekte auf das BIP-Wachstum gibt bereits der aktuelle Wiederaufbau der Lagerbestände in den Unternehmen. So findet ein spürbarer Wettlauf statt, die Waren noch vor Beginn des Weihnachtsgeschäfts durch alle Engpässe hindurch in die Regale zu bekommen.
Wachsende Konjunkturrisiken sorgen für Gegenwind
Allerdings formiert sich neuer Gegenwind für die Weltwirtschaft, verbunden mit erhöhten Risiken auf eine Dämpfung der Nachfrage und ein weiteres Ausbremsen der Erholung:
- Regulierungswelle in China trübt Wachstumsaussichten: Der von der Güternachfrage getragene globale Aufschwung hat das Wirtschaftswachstum in China gestützt und damit letztlich zu einem Umfeld beigetragen, das es den chinesischen Behörden ermöglichte, neben ausgewählten Sektoren insbesondere auch den Immobilienmarkt strenger zu regulieren. Unsere Prognose für das chinesische BIP im Jahr 2022, die wir konsequent unterhalb des allgemeinen Konsens ansetzen, lässt uns eine erhebliche geld- und fiskalpolitische Lockerung erwarten, um den Abschwung einzudämmen. Dennoch ist nicht mit einer Rettungsaktion für ausländische Gläubiger des chinesischen Immobilienriesen Evergrande zu rechnen.
- Energiepreise bedrohen Kaufkraftanstieg: In Europa und insbesondere Großbritannien haben mehrere Faktoren gezeigt, wie anfällig die Region auch künftig in Hinblick auf Energiepreisspitzen ist, darunter die rückläufige Inlandsproduktion, die kalte Witterung und die zunehmende Konkurrenz durch Energie aus Asien. Weltweit drohen der starke Energiepreisanstieg und die höhere Inflation jegliche Kaufkraft-Verbesserung der Haushalte zu untergraben.
- Staatliche Covid-Stützungsmaßnahmen laufen aus: Inzwischen sind bereits zahlreiche Corona-Hilfen ausgelaufen und die fiskalischen Konjunkturimpulse kehren sich ins Negative. Zwar werden in den USA noch weitere Fiskalpakete geschnürt, doch sind die Ausgaben so konzipiert, dass sie sich über einen langen Zeitraum erstrecken – beispielsweise über zehn Jahre – und nicht nur auf ein oder zwei Quartale, wie es bei den milliardenschweren Paketen während der Corona-Krise der Fall war. Außerdem dürften diese neuen Pakete erhebliche Steuererhöhungen oder Gebühren als Ausgleich enthalten. Umso wichtiger ist es, in den kommenden Wochen die möglichen Auswirkungen der Beendigung einer ganzen Reihe von zielgerichteten Programmen im Blick zu behalten, einschließlich Mietmoratorien und erhöhter Arbeitslosenunterstützung in den USA sowie Kurzarbeitergeldmodellen in Europa und Großbritannien.
Zentralbanken in Bewegung: Geldpolitische Wende in Sicht?
Durchaus konträr werden derzeit die Signale und Reaktionen der Zentralbanken im Markt diskutiert: Wann und in welchen Schritten könnte es zu einer geldpolitischen Wende kommen? Angesichts anhaltender Inflation und der deutlich anziehenden Preisentwicklung bei Vermögenswerten – einschließlich zweistelliger Zuwächse bei den Immobilienpreisen in einigen Ländern – sind viele Zentralbanken zu dem Schluss gekommen, zumindest einen Teil ihrer Konjunkturmaßnahmen zurückzunehmen. Dadurch soll die Gefahr einer dauerhaften Inflation oder verschärfter finanzieller Ungleichgewichte verringert werden.
Einige Zentralbanken haben ihre Maßnahmen zur Ausweitung der Geldmenge in Form von Anleihekauf- und Kreditprogrammen entweder bereits beendet oder sind dabei, sie auslaufen zu lassen. So hat die Reserve Bank of Australia ihre QE-Käufe reduziert. Die Bank of England wird ihr Programm voraussichtlich im Dezember auslaufen lassen, während die Reserve Bank of New Zealand und die Bank of Canada ihre bereits eingestellt haben. Die Federal Reserve hat seit Mitte November begonnen, die Anleihekäufe zu drosseln, sodass das Programm im Juni 2022 komplett beendet sein dürfte. Die EZB dagegen hält – nach jetzigem Stand – vorerst an ihrer Strategie fest, das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) bis März 2022 fortzusetzen. Da der Wirtschaftsaufschwung in Europa immer noch fragil ist und die EZB sich nun stärker auf ein Inflationsziel von zwei Prozent verpflichtet hat, könnte sie Ende des Jahres signalisieren, ihre Anleihekäufe im Jahr 2022 zu erhöhen, um das Auslaufen des PEPP-Programms teilweise zu kompensieren.
Zinserhöhungen rücken näher
Aber auch Zinserhöhungen der Zentralbanken rücken immer näher. Einige Schwellenländer-Notenbanken, die gegen den Inflationsdruck ankämpfen, befinden sich bereits mitten in diesem Prozess. Aus dem Kreis der Zentralbanken der Industriestaaten war die Norges Bank die erste, Anfang Oktober gefolgt von der Reserve Bank of New Zealand. Bislang macht die Fed deutlich, dass die Entscheidung über die Drosselung von Anleihekäufen unabhängig von der Entscheidung für eine erste Zinserhöhung und Zinsschritte nicht vor Abschluss des „Tapering“ zu erwarten seien. Doch das monatliche Diagramm der Zinserhöhungsprognosen der Fed, auch kurz Dot-Plot genannt, hat sich bereits auf der Septembersitzung geringfügig nach oben verschoben. Etwa die Hälfte der Teilnehmer des Federal Open Market Committee (FOMC) rechnen nun mit einer Zinserhöhung bis Ende nächsten Jahres. Somit fällt das aktuell gezeichnete Szenario der Fed für die erste Hälfte des Jahres 2023 etwas straffer aus als unser eigenes Basisszenario.
Die Bank of England deutete zwischenzeitlich sogar an, mit ihren Zinserhöhungen möglicherweise nicht einmal bis zum Ende dieses Jahres zu warten. Wir gehen jedoch davon aus, dass sie die Zügel nicht ganz so straff ziehen und sich wahrscheinlich bis zum nächsten Jahr zurückhalten wird. Auch die Notenbanker gehen davon aus, dass der Preisdruck, ausgelöst durch einen doppelten – sprich Brexit- und COVID-bedingten – Angebotssschock im kommenden Jahr wieder nachlassen dürfte.
Solides Wachstum bis weit ins nächste Jahr
Für die Zentralbanken erhöht das aktuell widersprüchliche makroökonomische Umfeld als Folge der globalen Pandemie das Risiko unbeabsichtigter geldpolitischer Fehler: So mag ein Strategiewechsel in der Geldpolitik zwar für einzelne Länder sinnvoll sein – ein gleichzeitiges kollektives Handeln birgt aus unserer Sicht jedoch das Risiko eines „Kurzschlusses“ für die globale Erholung, was aber nicht unserem Basisszenario entspricht. Insgesamt prognostizieren wir nach wie vor ein solides globales Wachstum bis weit in das nächste Jahr hinein. Denn zum einen dürften sich Lieferengpässe Schritt für Schritt auflösen und zum anderen werden die Zentralbanken der G10-Länder aus unserer Sicht weiter moderat vorgehen, sodass auch der Inflationsdruck schließlich nachlassen wird.
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