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Gastbeitrag Großkonzerne und die Blockchain

Symbolbild: Blockchain
Symbolbild: Blockchain
© Getty Images
Die Blockchain-Projekte aus deutschen Vorstandsetagen sind gefährlich gewaltig oder setzen die Technologie lediglich wie ein Werkzeug ein, schreibt TLGG-Berater Sebastian Gluschak in seinem Gastbeitrag

Mittweida, ein mittelsächsisches Hochschulstädtchen zwischen Leipzig und Dresden, schafft es nicht oft in internationale Debatten. Das sollte sich ändern, im Mai des Jahres 2016: Der DAO war geboren, programmiert von den Brüdern Jentzsch aus Mittweida. Es war die erste dezentrale, autonome Organisation überhaupt, in der Mitglieder über Abstimmungen gemeinschaftlich in Unternehmen investieren konnten – alles andere lief dann automatisiert, über Smart Contracts, keine menschliche Entscheidung mehr notwendig. Eine Firma ohne Menschen, weil das Management durch Programmcode ersetzt wird. Revolutionär. So revolutionär, dass 14 Prozent der damaligen Gesamtmenge der Cryptowährung Ether aus der Community in das Projekt floss. Der Glaube an die Vision, die menschliche Fehlbarkeit wegzucoden, war ungebrochen. Und die Fachpresse jubelte – und schrieb über Mittweida. Bis der menschgemachte Code versagte, und anonyme Mitglieder Ether im damaligen Wert von rund 200 Millionen Euro abzapften. Im November desselben Jahres war der DAO nur noch ein dezentraler Super-GAU, das Projekt galt als gescheitert. Der Quantensprung in die fortschrittlichere Parallelwelt, er ging ins Leere. War das dann doch ein bisschen zu groß gedacht? Große Schritte sind gut, um schnell Meter zu machen. Doch wenn es feine Kurskorrekturen braucht, können sie hinderlich sein. Zwei Jahre später sind es längst nicht mehr nur sächsische Nerds, sondern Konzerne aus aller Welt, die mit Blockchains die Welt sicher machen wollen. Rund 400 bekannte Initiativen etablierter Unternehmen gibt es, mehr als 1000 „Blockchain für X“-Startups kommen dazu. Viele versuchen sich in Konsortien wie MOBI, das unter anderem von BMW, GM und ZF getragen wird. Das Ziel: Ein Protokoll für eine von Ride Sharing und autonomem Fahren geprägte Mobilitätswelt zu entwickeln, das so ziemlich alle Fahrzeugtransaktionen – Tanken, Mieten, Zulassen und Steuern zahlen etwa – automatisch registriert und abrechnet. Ein DAO für Mobilität. Welche Vorteile bis zum Eintreffen der glorreichen Zukunft jedoch zu erwarten sind, bleibt unklar. Immerhin haben wir noch ein paar Jahre mit Zwischengas und Bleifuß vor uns. Kodak hingegen glaubt daran, die dezentrale Utopie für Fotografen selbst erschaffen zu können. Der KodakCoin soll per Smart Contract die Rechteverwaltung sowie die Bezahlung von digitalen Originalfotos in einem Rutsch automatisieren. Für den bislang lehrbuchhaften Digitalisierungsverlierer eine mutige Flucht nach vorne, der Allheilsbringer Blockchain hat den Aktienkurs kurzzeitig sogar verdreifacht. Von fast null auf über Hundert scheint man zu wollen, etwas, das die Cryptocommunity offen belächelt. Denn die erforderliche kritische Masse an Fotografen für die Plattform ist hoch, und ein pragmatischer Weg dahin nicht zu erkennen. Hinzu kommt, dass Kodak die Entwicklung weniger selbst ausbrütete, als dass sie ihren Namen einer bereits vorhandenen (und beim ersten Mal gescheiterten) Idee der Agentur Wenn Digital überstülpte. So geht das also, auf einen Zug aufspringen. Es hat was vom großen SAP-Fieber der 2000er: Das Projekt ist groß, es scheint gut, die Ziele leuchten ein – doch auf dem Weg dahin bricht Chaos aus und die Sinnfrage wird lähmend laut. So kennt man es aus der Ära Wasserfall. In der Ära Agil, das wurde Unternehmen ja mittlerweile gepredigt, sollten doch aber der Nutzer, sein Mehrwert, und die kleinen Schritte das Mantra sein.

Die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) zeigt gemeinsam mit Daimler, wie diese kleinen Schritte aussehen können. Zusammen haben sie einen Schuldschein komplett digital abgebildet, genauer: Mehrere Sparkassen haben Daimler – mit der LBBW als Gläubiger – rund 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Nach der Laufzeit von einem Jahr werden die bezinsten Beträge dann automatisch zurücküberwiesen. Keine grundrevolutionierte Finanzwelt, aber nützlich, um darauf aufzubauen. Unmittelbares Glück verschafft die AXA ihren Kunden mit der Flugausfallversicherung: Ihr Algorithmus crawlt alle Flugdaten und zahlt bei Verspätungen oder Ausfällen den Kunden in Echtzeit eine Ausfallprämie – die sich die Versicherung dann im Nachhinein bei den Fluggesellschaften zurückholt. Bequem, aber ist dazu wirklich die Blockchain notwendig? Höchstwahrscheinlich nicht. Wer aber an das dezentrale Wirtschaftssystem glaubt – oder es fürchtet, und deshalb mitgestalten will – tut gut daran, mit einzelnen Grundsteinen zu beginnen, statt monatelang am Reißbrett zu zeichnen. Auch, weil die Substanz der Bausteine sich in verrücktem Tempo weiterentwickelt. Nicht-fungible- Token zum Beispiel – die Technologie hinter dem Netzspiel Crypto-Kitties, die virtuelle Gegenstände mit einmaligen, nicht austauschbaren Tokens versieht – gab es vor einem Jahr kaum. Heute nutzen sie nicht nur Computerspieler, auch in der Nachverfolgung von digitaler Kunst und Texten finden sie Anwendung. Und die so viel zitierte Bitcoin-Drohkulisse, Skalierbarkeit und Energieverbrauch, könnte auch bald ein Nicht-Thema werden. Dann, wenn mit einem gut eingesetzten Lightning-Network die Transaktionsressourcen von Bitcoins gegen Null gehen. Oder, wenn Ethereum seine Konsensfindung vom rechenintensiven Proof-of-Work auf Proof-of-Stake umschaltet, und damit seine Verarbeitungsmenge vertausendfacht. Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass Satoshi Nakamoto, die mythische Figur hinter der Entwicklung von Bitcoin und Blockchain, wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, wenn er an die meisten Blockchaininitiativen der großen Konzerne denkt. Nakamoto wollte nach der Finanzkrise eine dezentrale Währung schaffen, um Banken zu umgehen. Ein offenes Protokoll, das allen gemeinsam, aber keinem insbesondere gehört. Kann er wollen, dass nun weltweit Kreditinstitute die Blockchain-Plattform Corda nutzen, um effizienter miteinander zu agieren? Wenn sich die Herrschenden der Mittel der Revolution bedienen – ist das dann Evolution oder Missbrauch? Im Sinne des Erfinders ist: „Alle Daten bei den Nutzern“, statt „Daten sind das neue Öl“. Modell Google, also so viele Datenpunkte wie möglich horten, analysieren und zur gezielten Befeuerung an Werbende zu verkaufen, würde zu Gunsten eines neuen Netz-Idealismus weichen. Einer Welt, in der Verbraucher selbst entscheiden, wem sie wann und wofür Daten bereitstellen. Für Vermarkter wäre das ein Niemandsland, für Unternehmen ein Umbruch. Es wäre der Schritt von der werbe- zur wertegetriebenen Gesellschaft. Grundmotiv: Nur der, der mir für meine Daten auch wirklich was bietet, bekommt sie auch. Spätestens seit dem Facebook-Skandal um Cambridge Analytica ist das Vertrauen in die Datensammler merklich geschrumpft. Für Wirtschaft und Gesellschaft könnte diese neue Hürde aber eine Chance sein. Wenn Produkte und Werbebotschaften nur dann an die richtigen Konsumenten kommen, wenn sie wirklich überzeugen – und nicht, wenn genug gezahlt wird - dann ist der Anreiz zur Verbesserung höher. Und das bringt uns zurück nach Mittweida. Denn die Kreisstadt schickt sich an, so einer Zukunft entgegenzusteuern. Zwar ist der DAO längst Geschichte, aber die Faszination Blockchain ist geblieben. Ab dem Wintersemester 2018 bietet die Hochschule den Masterstudiengang „Blockchain“ an. Die renommierte Blockchainberatung Slock.It ist hier ansässig. Und nun haben Bürgermeister, Professoren und rund 30 Unternehmen einen Letter of Intent unterschrieben, um als „Schaufensterregion Blockchain“ die Technologie sektorenübergreifend und sinnvoll einzusetzen.

15.000 Einwohner könnten dann etwa mittels einer digitalen Identität Behördengänge am Rechner erledigen, Baufinanzierungen einholen, oder per Button den angemessenen Preis für das Schwimmbad zahlen. Alles auf der gleichen, abgesicherten Datengrundlage, mit denen Bürger eine Vielzahl an Services und Produkten in der Region erwerben können. Sollte es soweit kommen, dann nur, weil sich unterschiedliche Organisationen mithilfe eines weitgehend neutralen Partners – der Stadtverwaltung – auf einen Standard geeinigt haben. Und weil sich die Region in eine ungewisse Zukunft wagt, um langfristig davon zu profitieren. Denn sofortige Umsatzsteigerungen oder satte Effizienzgewinne sind für den einfachen Mittelständler nicht zu erwarten. Den Initiatoren zufolge soll das Projekt „weit über die Landesgrenzen bekannt werden“. Um aber den nächsten GAU zu verhindern, wird wohl nur helfen, Schritt für Schritt ganz konkrete, eng definierte Projekte umzusetzen. Und vielleicht dockt ja auch ein Konzern an, um Blockchain nicht nur als Werkzeug, sondern auch als offenes Betriebssystem zu nutzen. Und zu lernen.

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