Inflation, Ukrainekrieg und Energiekrise: Die deutsche Wirtschaft steht seit Monaten von mehreren Seiten unter Druck. Umso erstaunlicher, dass sich die Konjunktur bislang robust zeigt. Doch bleibt das so? Am heutigen Mittwoch stellen die Wirtschaftsweisen in Berlin ihr Jahresgutachten vor – einer der wichtigsten Termine für Ökonomen in diesem Herbst. Es geht vor allem um die Frage, wie Deutschland mit den aktuellen Krisen umgehen kann. Allerdings prognostizieren die Sachverständigen für die deutsche Wirtschaft wenig Gutes: Im kommenden Jahr rechnen sie mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent. Vor allem für energieintensive Industrien lohne es sich demnach bald nicht mehr, in Deutschland zu investieren – es drohe gar eine Deindustrialisierung, urteilen die Sachverständigen.
Doch wie sehen es andere Institute und Forschungseinrichtungen? Wie steht es aktuell um die deutsche Wirtschaft und wohin wird sie sich im kommenden Jahr entwickeln? Antworten darauf bieten sogenannte Frühindikatoren. Capital hat einen Blick auf fünf relevante Indizes geworfen:
Der ZEW-Index: Deutliche Hinweise auf Rezession
Im Finanzmarkttest des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) werden monatlich 350 Finanzexperten aus Banken, Versicherungen und Industriekonzernen befragt, wie sie wichtige internationale Finanzmarktdaten einschätzen. Laut den jüngsten Ergebnissen vom 21. Oktober hat sich der Konjunkturausblick abermals verschlechtert. Zwar haben sich die Konjunkturerwartungen für die nächsten sechs Monate etwas verbessert – sie liegen nun bei -59,2 (+2,7) von maximal -100 Punkten – doch die aktuelle Lage von -72,2 (-11,7) wird von den Experten als nahezu dramatisch eingestuft. Die Summe aus Lage und Erwartungen liegt somit bei -131,4 Punkten. Niedriger war dieser Wert nur zwischen November 1992 und Februar 1993, erklären die ZEW-Forscher. Damals ging das reale Bruttoinlandsprodukt um ein Prozent zurück. Während der Finanzkrise 2009, als die deutsche Wirtschaft um 5,7 Prozent einbrach, notierte der Indikator bei -109,7 Punkten. Das Ausmaß der drohenden Rezession lässt sich also nicht ableiten – wohl aber ein Trend, ob eine Rezession naht. Ein wirtschaftlicher Einbruch des BIP folgte zuletzt immer, sofern der ZEW-Index unter -90 Punkte fiel. „Der aktuell vorliegende Wert von minus 131,4 Punkten ist daher ein sehr deutlicher Hinweis auf eine Rezession“, erklärt das ZEW.
Der Early-Bird-Index der Commerzbank: Recht hohes Niveau
Der Frühindikator der Commerzbank ist zuletzt von 0,71 auf 0,5 Punkte gefallen. Laut der Commerzbank, die den Indikator am 12. Oktober veröffentlichte, war dies das stärkste Minus seit elf Jahren. Gründe seien die schwächere Weltwirtschaft, steigende Zinsen und der fallende Einkaufsmanagerindex zwischen den USA und Europa. Der anziehende Handel zwischen Europa und China habe den Rückgang nur teilweise ausgleichen können. Insgesamt sei der „Early Bird“ aber weiterhin auf einem recht hohen Niveau, erklärt die Commerzbank. Ohne Krieg, Inflation und Energiekrise würde der Indikator zwar auf eine Abschwächung der Konjunktur hindeuten, keineswegs aber auf eine Rezession. Unter den gegebenen Umständen rechnet die Commerzbank allerdings mit einer anstehenden Rezession in den Wintermonaten.
Ifo-Geschäftsklimaindex: Immer weniger Neuaufträge
Das Institut für Wirtschaftsforschung befragt regelmäßig über 9000 Unternehmen, wie sie ihre aktuelle Lage und die Geschäftserwartungen für die nächsten sechs Monate einschätzen. Im Oktober bekundeten die Befragten auch hier, ähnlich wie beim ZEW, dass die aktuelle Situation schwierig sei. Der Ausblick besserte sich hingegen, wobei dieser mit deutlichen Fragezeichen versehen ist. Insgesamt sank der Index von 84,4 Punkten im September auf 84,3 Punkte im Oktober – jeweils verglichen mit dem Mittelwert des Jahres 2015. Vor allem das verarbeitende Gewerbe und das Bauhauptgewerbe ächzen unter der konjunkturellen Lage. Zwar sind die Auftragsbücher weiterhin voll, doch zur Zeit gehen immer weniger Neuaufträge ein. Bereits jetzt ist die Kapazitätsauslastung im verarbeitenden Gewerbe auf 84,6 Prozent gesunken und der Indikator für das Bauhauptgewerbe fiel auf den niedrigsten Stand seit Januar 2016. Entsprechend steht auch die Ifo-Konjunktur auf Rot.
Zahl der offenen Stellen: Weiter hohes Niveau
Vor allem in den USA, aber auch in Europa, ist der Arbeitsmarkt nach den Corona-Beschränkungen heiß gelaufen. Jetzt, in Zeiten von Hochinflation und steigenden Zinsen, mehren sich allerdings die Zeichen, dass der Boom zu Ende gehen könnte. In den USA ist die Zahl der freien Stellen im September zuletzt so stark gefallen wie seit dem Corona-Ausbruch im Februar 2020 nicht mehr. Ähnlich sieht es in der Eurozone aus, wo die im Einkaufsmanagerindex gemessene Bereitschaft Personal „einzukaufen“ auf ein 18-Monats-Tief gefallen ist. Und in Großbritannien wurde die erwartete Arbeitslosenquote für 2023 zuletzt von 4,1 auf 4,5 Prozent angehoben.
Für Deutschland nehmen Ökonomen an, dass die Arbeitslosenquote im kommenden Jahr um 0,6 Punkte auf 5,5 Prozent steigen könnte. Allerdings zeigen Daten der Jobportale Stepstone und Indeed bislang ein weniger dramatisches Bild: Der Rückgang der freien Stellen ist zwar real, allerdings gering und auf einem sehr hohen Niveau. Bei Indeed wird derzeit der 1. Februar 2020 als Referenzwert genommen, also der letzte gemessene Zeitpunkt vor Corona. Verglichen mit diesem Tag liegt die Zahl der offenen Stellen heute um 53,7 Prozent höher. Zum absoluten Höhepunkt im Frühsommer 2022 lag der Wert bei knapp 60 Prozent. Bei Stepstone ist die Situation ähnlich. Ein wichtiger Indikator ist auch die Zahl der offenen HR-Stellen. Die Idee dahinter: Wer seine Personalabteilung verstärkt, plant offensichtlich Neueinstellungen. Auch dort zeigt sich eine ähnliche Entwicklung wie im Gesamtkontext: „Zuletzt sind die offenen Stellen etwas zurückgegangen, aber wir befinden uns weiter auf einem sehr hohen Niveau“, erklärt Indeed-Sprecher Felix Altmann.
Einkaufsmanagerindex: Niedrigster Wert seit 2020
Der Einkaufsmanagerindex für die Privatwirtschaft – Industrie und Dienstleister zusammen – ist im Oktober ebenfalls gesunken, von 45,7 auf 44,1 Punkte. Damit notiert er auf dem niedrigsten Wert seit Beginn der Corona-Krise Anfang 2020. Der Finanzdienstleister S&P Global befragt hierzu regelmäßig rund 800 Unternehmen zu Kerngrößen wie Auftragsbestand oder Einkaufsmengen. Besonders stark sanken die Industrieaussichten. Sie verschlechterten sich so stark wie zuletzt vor knapp zweieinhalb Jahren – vor allem getrieben durch hohe Energiekosten und die schwache Nachfrage nach Industriegütern. Es gibt aber auch einen Lichtblick: „Trotz des Wachstumsrückgangs und der ausgesprochen düsteren Geschäftsaussichten ist das Beschäftigungsniveau noch nicht gesunken, was auf die Widerstandsfähigkeit des deutschen Arbeitsmarktes hindeutet“, sagte S&P-Ökonom Phil Smith. Letztlich deutet aber auch der Einkaufsmanager auf eine Rezession in den kommenden Monaten hin.