Die zweite Hälfte des Jahres wird richtig heftig. So lautete Anfang der Woche einhellig die politische Neujahrsbotschaft der Leitartikler des Landes. Im Herbst wird in Thüringen, Sachsen und Brandenburg ein neuer Landtag gewählt. Dann drohen Wahlsiege der AfD. Dann feiern die Nazis. Und im schlimmsten Fall ist dann die Demokratie in Gefahr.
Nun, die Leitartikler waren leider zu optimistisch. Das Jahr war noch keine fünf Tage alt, da wurde es schon richtig heftig.
Wütende Bauern haben am Donnerstagabend im Nordsee-Hafen von Schlüttsiel eine Fähre blockiert, mit der Vizekanzler Robert Habeck aus dem Urlaub zurückkam. Ein Gesprächsangebot des Grünen-Politikers lehnten sie ab. Die Fähre musste wieder ablegen. Der Mob feierte mit Silvesterfeuerwerk.
Was vor Weihnachten als Bauernprotest gegen gestrichene Subventionen anfing, endete am Fähranleger mit einer Grenzüberschreitung. Mit einem Triumph der Hasserfüllten, der so nicht stehen bleiben darf. Falls es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, dass in bestimmten Milieus die Stimmung ins Inakzeptable kippt – bitte schön, hier ist er.
Diese Entwicklung gefährdet den demokratischen Diskurs. Sie bedroht das Miteinander und die Art, wie wir in diesem Land über Probleme und ihre Lösungen streiten. Auf den öffentlich zelebrierten Hass der einen kann es nur eine Antwort geben: öffentlich zelebrierte Geschlossenheit aller anderen.
Jeder muss bei sich selbst anfangen
Der Bauernverband könnte damit anfangen, die geplanten Proteste abzusagen. Nur das wäre ein ausreichendes Signal, den eigenen Leuten zu verstehen zu geben: Hier ist eine Grenze überschritten worden, das akzeptieren wir nicht.
Die Parteien der Mitte könnten damit anfangen, sich untereinander nicht immer gleich die schlechtesten Absichten zu unterstellen. Politik braucht manchmal Zuspitzung, ja, keine Frage. Nur darf man Zuspitzung nicht verwechseln mit: Übertreibung, Irreführung, Feindbildpflege, Bullshit.
SPD und Grüne, CDU und CSU, FDP und die Minderheit der Vernünftigen bei der Linken – sie alle tragen die Verantwortung dafür, dass die demokratische Kultur nicht in einem Kreuzfeuer aus ideologischen Schützengräben kaputtgeschossen wird.
Und weil dieser Text nun auch schon klingt wie von der Leitartikler-Kanzel gepredigt, soll er nicht ohne Selbstkritik bleiben. Es gibt Momente im kollektiven Erleben einer Gesellschaft, da muss jeder bei sich selbst anfangen. Das ist jetzt so ein Moment.
Auch der Journalismus muss seinen Teil zur Wehrhaftigkeit der Demokratie beitragen. Doch noch viel zu oft verharren wir in der Beschreibung, wo Einordnung verlangt wäre. Viel zu häufig übernehmen wir die Quatschbehauptungen der Politik, statt sie mit Fakten zu widerlegen. Und dann und wann lehnen wir uns bequem zurück, wenn Krawall und Remmidemmi unseren Profitinteressen dienen.
Doch wer sich selbst zur vierten Gewalt erklärt, darf nicht auf Klickzahlen schauen, wenn die Hütte brennt.
Der Fall Robert Habeck zeigt: Die Prognose sieht düster aus
Der Soziologe Steffen Mau hat zuletzt eindrucksvoll dargelegt, warum die Gesellschaft hierzulande keinesfalls gespalten sei. Dass es aber „Triggerpunkte“ gebe, etwa eine Handvoll Themenarenen, in denen besonders hart kulturgekämpft wird – und die diejenigen für sich nutzen, die von Polarisierung profitieren.
Zu den Protesten der Landwirte gegen Habeck sagt Mau nun: „Einer Demokratie unwürdig und Folge von verbaler Aufrüstung, Hetze und Feindbildrhetorik. Wenn wir nicht aufpassen, lässt sich eine solche Verwilderung sozialer Konflikte kaum wieder einfangen.“
Das ist eine düstere Prognose, aber mitnichten eine unwahrscheinliche.
Im Hafen von Schlüttsiel, dort wo der Bauern-Mob Habecks Fähre blockierte, hat FDP-Fraktionsvize Gyde Jensen vor wenigen Tagen dem „Spiegel“ ein bemerkenswertes Interview gegeben. Sie plädiert darin für mehr Sachlichkeit in der politischen Debatte. Die Leisen müssten lauter werden, fordert Jensen. Sie bezog das nur auf ihre Partei, die FDP. Aber ihre Botschaft gilt parteiübergreifend.
Die Leisen müssen lauter werden. Überall.
Der Kommentar ist zuerst bei stern.de erschienen