In der angelsächsischen Welt gibt es einen Rechtsgrundsatz, der uns in diesen Tagen auch in der Prozessserie rund um den VW-Dieselskandal in den Sinn kommt: „Justice delayed is justice denied“. Der Betrug geht mindestens bis in das Jahr 2008 zurück, 2015 erfuhr die Öffentlichkeit davon. Doch sechs Jahre später gibt es noch kein Urteil gegen die Hauptbeschuldigten. Ex-VW-Chef Martin Winterkorn meldet sich für das endlich auf den 16. September terminierte Hauptverfahren krank, wie man letzte Woche erfahren konnte. Möglicherweise muss die Justiz sein Verfahren abspalten und auf das nächste, vielleicht sogar auf das übernächste Jahr verschieben. 2024 erreicht Winterkorn sein 76. Lebensjahr und man kann nicht ausschließen, dass wir niemals ein rechtskräftiges Urteil gegen den gesundheitlich angeschlagenen Mann sehen werden.
Das Recht auf ein schnelles Verfahren soll eigentlich die Angeklagten schützen. Aber man sollte es in diesem Fall eigentlich auch den Tausenden von Geschädigten zubilligen: den Aktionären von VW und den Käufern eines VW-Dieselwagens. Dafür spricht auch ein weiterer Rechtsgrundsatz: die Generalprävention. Nur wenn man am Ende des Verfahrens die Hauptschuldigen für ihr Verhalten büßen müssen, kann man ähnliche Wirtschaftsvergehen verhindern oder potentielle Täter zumindest glaubhaft abschrecken. Anderenfalls setzt sich in der Öffentlichkeit wieder einmal der schlimme Eindruck fest: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“
Kommen die VW-Oberen im Dieselskandal ohne Urteil davon?
Wahrscheinlich werden wir jedoch, so oder so, niemals die volle Wahrheit über den teuersten Wirtschaftsskandal der ganzen Nachkriegsgeschichte erfahren. Das liegt auch an der deutschen Justiz, aber gewiss nicht hauptsächlich. Die Behauptung, die Materie sei eben so kompliziert, dass eine Aufklärung viel Zeit erfordere, hält einer Überprüfung nicht stand. Es gab und gibt viel kompliziertere Verfahren – man denke nur an das Thema Cum-Ex. In den USA wurde ein erster Beschuldigter bereits im August 2017 verurteilt. Der Vergleich mit dem US-Justizministerium, in dem sich der Konzern schuldig bekannte, stammt sogar aus dem Frühjahr 2017. In Deutschland aber mahlten die Mühlen der Justiz zu langsam, weil sie zu fein mahlen wollten.
Zu lange setzte die deutsche Justiz auch auf ein Mindestmaß an Kooperation im VW-Konzern selbst. Die Verantwortlichen in Wolfsburg vermittelten anfangs den Eindruck, sie seien selbst an einer tiefen Aufklärung der Vorwürfe interessiert. Doch schon wenig später wollten sie davon nichts mehr wissen und verweigerten den Staatsanwälten sogar den Einblick in ihre konzerninternen Ermittlungsakten. Für den 2015 berufenen Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch ging es von Anfang an vor allem darum, die Interessen seiner Haupteigentümer zu schützen und den Porsche-Piëch-Clan aus allen Verfahren so weit wie möglich herauszuhalten. Am Ende muss man sagen: Es ist ihm gut gelungen. Und mit jedem Jahr, das ohne rechtskräftige Urteile vergeht, schwindet die Hoffnung, die Rolle der ganz Oberen doch noch zu beleuchten.
Bernd Ziesemerist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.