Christian Rast ist Chief Solution Officer der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft KPMG. Er ist zudem Gründer von BrainNet, die sich auf die Beratung rund um Einkauf und Supply Chain Management spezialisiert hatte. 2012 wurde BrainNet von KPMG gekauft.
Capital: Herr Rast, Digitalisierung und Disruption sind eines der großen Themen hier auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema. Was hat sich verändert?
Christian Rast: Ich beobachte seit langem drei Gruppen. Die erste hat in der Regel gesagt: Das ist eine Welle, das ist eine Mode und ein Buzzword, das geht vorüber. Die zweite Gruppe hat gesagt: Ja, da sind wir mit dabei. Sie tun also etwas, aber sie denken: Es geht im Kern nicht um die Existenz meines Geschäfts. Sie beteiligen sich zum Beispiel an einem Inkubator oder an einem Accelerator oder installieren einen Chief Digital Officer. Die dritte Gruppe hat erkannt, dass es um eine existentielle Kernfrage geht: Lass ich mich kannibalisieren oder kannibalisiere ich mich selbst? Sie entschieden sich für letzteres, denn so können sie es steuern. In solchen Unternehmen erlebe ich, dass das Führungsteam das eigene Geschäftsmodell, die eigene Strategie daraus ableitet. Sie stellen die eigene Organisation völlig in Frage. Und diese Gruppe gewinnt deutlich an Bedeutung, man findet hier kaum noch einen, der sagt: Die Digitalisierung geht schon wieder vorbei.
Ist Digitalisierung also eine Haltung, die man einnehmen muss?
Veränderung ist eine Haltung. Und wie ich mit Veränderungen umgehe. Aus der Biologie sind wir ja gewöhnt, dass man sich verändern muss, um zu überleben. Kulturell sind wir eigentlich eher gewöhnt, Veränderung über sehr lange Zyklen zu sehen. Die aber werden immer kürzer. Wir sind von der kulturellen Prägung her nicht darauf eingestellt, uns alle drei, vier Jahre komplett neu zu hinterfragen. Genau das aber müssen wir tun und lernen. Es sind interessanterweise Manager aus klassischen Branchen wie Stahl oder der Automobilindustrie, die oft die Chancen sehen. Diese Veränderung muss unten im Bauch ankommen. Je komplexer die Entscheidungsprozesse sind, und sie sind komplex, umso mehr muss ich lernen, neben aller Rationalität auch mal intuitiv zu entscheiden.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir Daimler. Das Führungsteam hat völlig erkannt, dass die wesentlichen Trends der Automobilindustrie nicht an ihnen vorbeiziehen werden. Die Autohersteller stehen vor besonderen Herausforderungen, denn hier spielen sich gleich vier disruptive Strömungen auf einmal ab: Unser gesamtes Mobilitätskonzept ändert sich fundamental: Das Sharing-Modell verdrängt immer mehr das Besitzmodell. Daneben verschiebt sich das Gleichgewicht von Produzenten zu Konsumenten: So werden die Chinesen immer stärkere Anbieter. Das dritte ist die Veränderung der Antriebskonzepte – alternative Formen gewinnen an Bedeutung und viertens der Trend zum autonomen Fahren, der die gesamte Automotive-Wertschöpfungskette verändern wird.
Weil Unternehmen wie Google selbstfahrende Autos bauen.
Ja, auch. Aber es geht nicht nur darum, dass das Auto selber fährt. Es geht nicht nur darum, dass bestimmte emotionale Werte des Autos, die ich im Selberfahren erlebe, verschwinden. Ich muss mir die Frage stellen: Was tun denn dann die Menschen im Auto? Wie kann ich eine neue Form von Emotionalität erzeugen? Wird es das fahrende Büro? Wird es das fahrende Spielzimmer? Wird es das fahrende Konferenzzimmer? Wird es die fahrende Pflegestation für alte Leute?
Demografie hat nicht nur negative Effekte
Mit den disruptiven Strömungen gehen ja auch immer viele Ängste einher, dass Arbeitsplätze verschwinden. Was erwarten Sie für Deutschland?
Erstens: Es werden andere Arbeitsplätze entstehen. Die Arbeitsplätze, die wir vor zehn, fünfzehn Jahren entwickelt haben, werden nicht mehr die Arbeitsplätze sein, die wir in fünf Jahren entwickeln werden. Zweitens: In Deutschland glauben wir immer, dass die Demografie nur negative Effekte hat. Ich mache da mal ein Fragezeichen dran. Ich glaube, wir werden in Zukunft durch die Digitalisierung enorme Produktivitätsgewinne erleben, durch den höheren Vernetzungsgrad. Ich erwarte, dass das Bruttosozialprodukt pro Arbeitsplatz deutlich wachsen wird durch die Vernetzung, weil wir eine höhere Wertschöpfung bekommen werden. Die Kernfrage ist für mich deswegen nicht mehr: Wie viele Arbeitskräfte haben wir in Zukunft? Sondern: Haben wir die richtigen Arbeitskräfte in der Zukunft? Und dabei spielt das Thema Bildung eine fundamentale Rolle. Bildung im Sinne von Ausbildung. Bildung im Sinne von konsequenter Weiterbildung.
„Lebenslanges Lernen“, noch so ein Buzzword.
Das stimmt. Ich kann diese Schlagworte auch schon gar nicht mehr hören. Fakt ist aber, dass bestimmte Schlagworte auf einmal faktische Relevanz kriegen.
Welche Fähigkeiten brauchen die Deutschen denn konkret? Also wenn ich mir mal den normalen Mechaniker anschaue, der das duale System durchlaufen hat. Oder der Ingenieur. Der steht jetzt am Band oder konstruiert eine Maschine und denkt: Verdammt, diese Disruption.
Auf weit absehbare Zeit werden wir ja einen mechanischen Anteil haben. Nehmen Sie die Robotik, deren Anteil enorm wachsen wird. Diese Roboter müssen installiert werden, die müssen gewartet werden, die müssen gebaut und beherrscht werden. Sie werden aber in einem Kontext extremer digitaler Vernetzung arbeiten. Und deswegen müssen wir auf der einen Seite diese Mechaniken beherrschen, aber auf der anderen Seite auch den Vernetzungsgrad in der Arbeit.
Was heißt das konkret?
Es ist natürlich etwas ganz anderes, wenn Sie morgens in Ihre Firma kommen und die Arbeitsliste erhalten: „Fahr zu dem Mandanten und repariere da XY“. Das wird komplexer sein, denn Expertise wird mit Routenplanung und Priorität der Kundenaufträge vernetzt und zwar in Echtzeit. Aber es geht nicht nur um die „Blue Collar“-Jobs. Viel spannender finde ich die „White Collar“-Jobs, die Büroarbeit, weil wir hier bereits viel mehr Arbeitskräfte allokiert haben.
Welche Kernbranchen neben Automotive in Deutschland sind noch betroffen?
Der Maschinenbau. Da erleben wir die komplette Vernetzung von Wertschöpfungsketten. Auch die Rolle der Banken wird mit Sicherheit in fünf bis zehn Jahren eine ganz andere sein, als es heute der Fall ist. Geschäftsmodelle, die Sie heute haben, gerade im Transaktionsbereich, werden nicht mehr alleine von Banken übernommen werden.
Apple und Google werden ins Bankgeschäft einsteigen
Das Geschäftsmodell der Banken war hier in Davos ebenfalls ein Thema. Deutsche-Bank-Chef Anshu Jain hat gesagt, die Branche habe die Digitalisierung im Massengeschäft verschlafen. Er bekannte auf dem Podium: „Wir waren zu langsam. Musikindustrie, Bekleidungsindustrie, Handel - alle waren viel besser. Aber jetzt wird es auch bei uns in der Branche schnell gehen.“
Ja, zumal immer neue Player nach Banklizenzen streben. Angefangen hat es ja in der Automobilindustrie mit deren Financial Service Geschäft. Jetzt fängt der Maschinen- und Anlagenbau an. Wir werden erleben, dass Unternehmen wie Apple oder Google Banklizenzen haben werden. Und wenn Sie eine Banklizenz haben, haben Sie direkten Zugang zum Interbankenmarkt.
Welche Rolle spielen die Fin-Techs? Eine reale Gefahr oder werden die überschätzt?
Die spielen eine ganz wesentliche Rolle, vor allem, weil sie kleine Teile der Wertschöpfungskette besetzen und vernetzen.
Sie führen hier in Davos viele Gespräche mit Klienten. Ist die Grundhaltung eher optimistisch oder ratlos?
Überwiegend werden jetzt die Chancen diskutiert. Wir sind jetzt in der Phase, wo das „Wie“ diskutiert wird, nicht mehr das „Ob“.
Es gibt ja verschiedene Kategorien von Unternehmen: Also ein Konzern wie Siemens, für den ist Industrie 4.0 nicht nur ein Schlagwort, da kümmert sich ein Vorstand drum und sie bauen eine digitale Fabrik. Dann gibt es Unternehmen wie Kuka, die sagen: Erzählt uns was Neues. Euren Trend machen wir seit 20, 30 Jahren. Und dann gibt es eine dritte Gruppe von Unternehmen, die gar nicht wissen: Was heißt das für mich? Muss ich neue Maschinen anschaffen? Muss ich eine neue Fabrik bauen? Muss ich meine Prozesse umstellen? Muss ich neue Leute suchen?
Ich würde noch eine vierte Gruppe nennen: Einer, der am schnellsten wachsenden Roboterhersteller der Welt ist jetzt Google. Die fragen sich eben nicht: „Was bedeutet das für mich, meine Industrie umzukrempeln oder mein Unternehmen umzukrempeln?“ Die machen es einfach. Für die angestammten Unternehmen geht es aber nicht um ganz neue Fragen, sondern um die zwei uralten Schlagworte aus der Strategieentwicklung: Was ist in der Wertschöpfungskette eigentlich meine Kernkompetenz? Wenn ein Anlagenbauer meint, er müsse jetzt zum Gaming-Experten werden, wird er wahrscheinlich eher scheitern. Die zweite Frage ist: Wie kann ich in dem neuen Umfeld einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil gewinnen?
Welche Vorbilder fallen Ihnen da ein?
Ich nehme mal ein Beispiel, bei dem es nicht um Digitalisierung geht: Bayer. Die haben sich gesagt: Wir konzentrieren uns auf zwei wesentliche Geschäfte. Geschäftsfeld Nummer 1 ist: Wir tragen dazu bei, dass eine Welt auch mit neun Milliarden Menschen bei gleichem Boden immer noch ausreichend ernährt werden kann. Das Geschäft heißt CropScience. Zweitens, wir konzentrieren uns auf Gesundheit. Alles andere geht aus dem Konzern raus. Das war über sechs, sieben Jahre ein sehr konsequenter Veränderungsprozess, sehr systematisch, sehr strukturiert, sehr klar.
Automatisierungsgrad wird drastisch steigen
Die Digitalisierung wird auch Ihre Branche umkrempeln. Wie müssen Sie sich ändern?
Unsere ganze Wertschöpfung wird sich ändern. Wir hatten vor kurzem eine Betriebsversammlung, da waren mehrere Hundert Kolleginnen und Kollegen und eine unserer Mitarbeiterinnen fragte mich: „Sagen Sie mal, was ist für Sie Data Analytics ganz einfach gesagt? Wie verändert das unsere Arbeit?“ Ich habe geantwortet: „Stellen Sie sich einmal mal vor, es gibt kein Word, kein PowerPoint und kein Excel mehr.“ Da hat sich natürlich jeder gefragt: Wie viel Zeit verbringe ich heute eigentlich mit Word, PowerPoint und Excel? Viel. Und was mache ich dann mit der Zeit?
Das wird Ihre Struktur verändern.
Ja, in der Struktur unserer Industrie haben wir oben einen Partner, dann kommt die Projektleitung und dann kommen die Berater. Wie eine Pyramide mit vielen Unterpyramiden. Das wird sich ändern, weil viele Tätigkeiten, für die wir heute Leute brauchen, die Excel und PowerPoint beherrschen für Research und Ähnliches – die werden wir in Zukunft so nicht mehr brauchen, weil der Automatisierungsgrad dieser Arbeit drastisch steigen wird. Die Professional Service Unternehmen werden zunehmend den Industrialisierungsgrad erhöhen, damit sich unsere Kollegen mehr auf den Klienten konzentrieren können. Das stellt uns vor Riesenherausforderungen, weil wir die Wertschöpfung anders generieren müssen, durch neue Prozesse und Services. Damit werden auch Karriereentwicklungen zukünftig anders aussehen und wir werden neue Berufsbilder sehen, die Business Expertise mit technologie-getriebenen Solutions verbinden.