Marc Schiefer ist Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht der Tübinger Kanzlei TILP
Capital: Herr Schiefer, Ihre Kanzlei hat jüngst die erste deutsche Anlegerklage gegen die Volkswagen AG eingereicht und Antrag auf Einleitung eines Musterverfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzt (KapMuG) vor dem Landgericht Braunschweig gestellt. Welche Chancen rechnen Sie sich aus, dass Sie mit Ihrer Klage Erfolg haben werden?
Marc Schiefer: Wir rechnen uns sehr „gute Chancen“ aus, denn wir wissen die Rechtsprechung in diesem Fall auf unserer Seite.
Worauf gründet sich Ihre Klage?
Zum einen auf das Wertpapierhandelsgesetz mit seinen konkreten, anlegerfreundlichen Normen der Paragraphen 37 b und c des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) sowie auf allgemeines Deliktsrecht.
Wie lautet konkret der Hauptvorwurf?
Der Hauptvorwurf liegt in der unterlassenen Offenlegung der vorgenommen Manipulationen und den daraus resultierenden Risiken sowie der Nichtaufklärung der Investoren über die bereits im Mai 2014 eingeleiteten Untersuchungen US-amerikanischer Behörden. Wären den Investoren diese Umstände bekannt gewesen, hätten diese vom Kauf der VW Finanzprodukte Abstand genommen, weil das Risiko einer milliardenschweren Inanspruchnahme durch US-Behörden im Raume stand.
Insiderinformationen wurden zurückgehalten
Was schreiben die deutschen Vorschriften zu Insiderinformationen in solchen Fällen vor?
Nach Paragraph 13 WPHG ist eine Insiderinformation eine „konkrete Information über nicht öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderwertpapieren beziehen“. Eine solche Insiderinformation lag bezüglich der Manipulationen und den behördlichen Ermittlungen vor.
Wann hätte VW spätestens informieren, sprich eine Ad-hoc-Mitteilung herausgeben müssen?
Bereits zum 6. Juni 2008 hatte VW die Zulassung für eines ihrer Modelle erwirkt. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Manipulation konkret manifestiert. Spätestens aber seit Mai 2014, als die US-Umweltbehörden auf den Plan gerufen wurden, hätte die Veröffentlichung einer Ad-hoc-Meldung nach Paragraph 15 Abs. 1 S.1 WpHG erfolgen müssen.
Wie würde ein solches KapMuG-Verfahren aussehen, das Sie mit Ihren Klagen anstreben?
Bei einem KapMuG-Verfahren, also einem Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, werden die einzelnen Klagen letztendlich gebündelt. Auf der Basis von zehn gleichgerichteten Anträgen auf Zulassung eines Musterverfahrens muss das Landgericht ein KapMuG-Verfahren eröffnen. Es wird dann eine Arbeitsgrundlage mit Fragen, die für alle Investoren von Bedeutung sind, an das Oberlandesgericht senden, so dass das Oberlandesgericht darüber allgemeinverbindlich entscheiden kann. Alle Klagen in den Ausgangsverfahren werden solange ausgesetzt. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht hingegen wird durch nur einen der Kläger, den sogenannten Musterkläger, stellvertretend geführt. Dieser wird vom Oberlandesgericht bestimmt.
Rückabwicklungsschaden oder Kursdifferenzschaden
Wer kann klagen?
Klagen kann jeder Investor, der Aktien oder andere Finanzinstrumente von VW zwischen dem 6. Juni 2008 und dem 17. September 2015 gekauft hatte. Dass er diese am 17. September 2015 noch gehalten hat, ist nicht erforderlich.
Wonach bemisst sich die Höhe des Schadenersatzes?
Der Schadensersatz kann auf zweierlei Wegen berechnet werden: Entweder als Rückabwicklungsschaden oder als Kursdifferenzschaden. Beim Rückabwicklungsschaden verlangt der Anleger sein Geld für die getätigte Anlage zurück, Zug um Zug gegen Rückgabe der Wertpapiere. Beim Kursdifferenzschaden hingegen fordert der Anleger den Verlust, den er durch den Kurssturz erlitten hat. Stellt man auf den Kurssturz seit Veröffentlichung der Manipulation zum 17. September 2015 und dem Ende der Marktbewegung zum 22. September 2015 ab, kommt man auf einen Kursdifferenzschaden von rund 60 Euro pro Aktie.
Wie viel Zeit bleibt Klägern?
Kläger haben jetzt die Möglichkeit innerhalb eines Jahres ab dem Bekanntwerden der kursbeeinflussenden Umstände am 17. September 2015 auf Basis der wertpapierrechtlichen Normen zu klagen. Andere Anspruchsgrundlagen verjähren aber gegebenenfalls bereits zum 14. März 2016. Eile ist daher geboten.
Habe ich denn noch einen Schaden, wenn der Kurs sich wieder fängt? Kann ich die Sache nicht einfach aussitzen?
Es besteht natürlich kein Zwang zur Klage, aber man vergibt die Chance, rechtzeitig Schadensersatz zu fordern, und läuft dann Gefahr, dass Verjährung eintritt Auch wenn der Kurs in naher oder ferner Zukunft wieder steigen sollte, was übrigens niemand weiß, bleibt zumindest der sogenannte Kursdifferenzschaden in der bereits eingetretenen Höhe bestehen. Denn ohne die Schädigung wäre der Kurs um diesen Betrag höher gewesen. Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen ist daher wirtschaftlich geboten. Mit dem KapMuG-Verfahren kann die Verfolgung dieser Ansprüche auch kostengünstig vorgenommen werden.