TINA hat an der Börse ausgedient. „There is no alternative“ war lange Zeit das zentrale Argument der Bullen am Aktienmarkt. Dividendenwerte galten als alternativlos, weil mit Sparbuch, Festgeld und Anleihen keine nennenswerten Zinsen zu verdienen waren – oder sogar Strafzinsen aufgerufen wurden. Inzwischen hat sich das Bild geändert: Broker und Banken zahlen sogar wieder Zinsen an Anleger. „Stocks are very expensive“ könnte das neue Credo lauten – SAVE passenderweise als Kürzel.
„Schaut man sich in den USA die Möglichkeiten für Kapitalanleger an, so befinden sich Aktien gegenüber Anleihen sogar in einer Art Todeszone“, sagt Jürgen Molnar vom Broker Robomarkets. Dort setzen Anleger zuletzt, wie auch beispielsweise beim Smartbroker, verstärkt auf fallende Aktienkurse. Die Umstände in den USA sprechen zumindest im Blick auf die Vergangenheit nicht für bullische Anleger. „Denn die Risikoprämie für Aktien im Vergleich zu Anleihen war ewig nicht so unattraktiv wie gegenwärtig“, ergänzt Molnar. Besonders verlockend waren Aktien im Gegensatz zu Anleihen im Frühjahr 2020 oder im Frühjahr 2009 aber keinesfalls im Frühjahr 2023. Soweit die Theorie. Es gibt aber immerhin noch die Betrachtung der Realzinsen.
Was übrig bleibt
„Die Zinshöhe allein ist nicht entscheidend, sondern die Realzinsen“, sagt Dennis Austinat, Deutschland-Chef von der internationalen Multi-Asset-Plattform Trive. „Das ist der Betrag, um den die Zinsen die erwartete Inflation übersteigt, also das Geld, was bei den Menschen verbleibt“, so Austinat. Dieser Betrag wird ermittelt, in dem man die 10-Jahresrenditen mit der zehnjährigen erwarteten Inflationsrate vergleicht. Sie lässt sich aus der Differenz zwischen der Nominalrendite der zehnjährigen Staatsanleihen und der Rendite der zehnjährigen inflationsgeschützten Anleihe errechnen und beträgt derzeit rund 2,3 Prozent.
Die so ermittelten realen Zinsen waren in den letzten Jahren größtenteils negativ, der Zins lag also unterhalb der erwarteten Inflation. Aber die zehnjährigen Realzinsen drehten vor wenigen Monaten ins Positive und haben aktuell das höchste Niveau seit 2007 erreicht. Das liegt gleichzeitig über dem 20-Jahresdurchschnitt.
Hohe Realzinsen sind auch deshalb interessant, weil Anleger neben dem attraktiven Zins auch von Kursgewinnen bei der Anleihe profitieren können. Sollte die Inflationserwartung doch wieder von ihrem hohen Niveau aus sinken, ziehen meistens die Zinsen nach und fallen ebenfalls, was gleichzeitig steigende Anleihekurse, also Kursgewinne bedeutet. „Anleihen haben daher bei Investoren in den vergangenen Wochen einen starken Zuspruch erfahren“, sagt Ricardo Evangelista, Senior Analyst bei Activtrades. Aktien-ETFs seien dagegen von Anlegern zuletzt gemieden worden.
Anleihen bleiben stark
Obwohl die zehnjährige Realrendite in den vergangenen Monaten kräftig gestiegen ist, liegt sie im historischen Vergleich noch auf einem moderaten Niveau. Das bietet weitere Chancen, weshalb Anleihen ihre wiedergewonnene Attraktivität behalten dürften.
Und wie haben sich Aktien in einem solchen Umfeld geschlagen? Hohe Realzinsen haben Aktien in der Vergangenheit nicht langfristig geschadet, sie sind aber nicht mehr alternativlos und dürften daher relativ an Zuspruch verlieren. Schlecht sind vor allem überhitzte Phasen am Markt. Historisch gesehen haben hohe Realrenditen wenig Einfluss auf den Aktienmarkt gehabt, es kam sehr viel stärker auf die Entwicklung des einzelnen Unternehmens an.
2023 könnte also weiterhin ein gutes Jahr für Stock-Picking werden – auf die Auswahl kommt es an. Für den Gesamtmarkt dagegen könnte es zumindest dann schwierig werden, wenn man das Level von 15.500 im Dax oder 4100 Zählern im S&P 500 Mitte Februar als Basis nimmt. Mit anderen Worten – die Party 2023 für Aktien ist per Saldo vielleicht schon gelaufen.