US-Aktien haben in den vergangenen 15 Jahren den globalen Aktienmarkt und insbesondere europäische Titel konstant und deutlich geschlagen. Doch das ist jetzt schlagartig vorbei: Europa-Aktien haben momentan die Nase vorne. Während der Euro Stoxx 50 allein seit Jahresbeginn um 6,5 Prozent zugelegt hat, schafft es der S&P 500 nicht einmal auf zwei Prozent. Woran liegt das? Warum verkaufen Anlegerinnen und Anleger derzeit die „Darling-Asset-Klasse“ US-Aktien? „Die langjährige Outperformance von US-Papieren hat einerseits mit einer historischen Schwäche europäischer Aktien zu tun, etwa aufgrund der Euro-Krise, des schwachen Gewinnwachstums seit der Finanzkrise und des Brexits“, sagt Mark Schumann, Portfolio Manager Aktien Europa bei der DWS. „Andererseits war sie getrieben durch eine Stärke der großen Wachstumstitel in den USA, vor allem im Technologiesektor.“
Hinzu kommt noch das langjährige Niedrigzinsumfeld, welches „Growth“ als Anlagestil gegenüber „Value“ favorisiert hat. „Im globalen Kontext ist der US-Markt durch die Prävalenz großer Technologietitel als Wachstumsmarkt zu sehen, Europa durch eine andere Branchenstruktur eher als Value-Markt“, erklärt Schumann. Der im Vorjahr gestartete Zinserhöhungszyklus hat diese einseitige Entwicklung erstmals seit Langem ein wenig ausgewogener gestaltet. Das veränderte Zinsumfeld belastet insbesondere die großen Wachstumstitel der USA mit ihren zum Teil extremen Bewertungen. Das Ende des billigen Geldes schränkt sie in ihrem Expansionsbestreben stark ein – und senkt die zuvor hohen Gewinnerwartungen unter den Anlegern. Bis zur Zinswende waren viele global anlegende Investoren in US-Titel über- und in Europa untergewichtet. „Diese einseitige Positionierung löst sich nun auf, befeuert durch eine Kombination aus negativen Gewinnrevisionen und Abschmelzen extrem hoher Bewertungen, die diese Titel zunehmend unattraktiver erscheinen lassen“, sagt Schumann.
„Rebound-Effekt“
Einen weiteren möglichen Erklärungsansatz für die außergewöhnliche Performance in Europa sieht der DWS-Experte in einem „Rebound-Effekt“. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine und der daraus resultierenden Energiekrise kam es zu umfangreichen Short-Wetten gegen europäische Aktien. „Der Bewertungsabschlag des europäischen Marktes gegenüber den USA erhöhte sich auf ein Rekordhoch von zeitweise circa 30 Prozent“, so Schumann. Diese Short-Positionen wurden mit den fallenden Energiepreisen und einer sich etwas aufhellenden wirtschaftlichen Datenlage nach und nach geschlossen. Das hatte einen „Rebound“ in der relativen und absoluten Wertentwicklung des europäischen Marktes zu Folge.
Und dann wäre da noch der sogenannte „Pain Trade“: Unter dem Eindruck einsetzender Verluste und der Furcht, die Erholung an Europas Börsen zu verpassen, befeuern Anleger die Europa-Rally zusätzlich. Gleichzeitig relativiert Schumann: „Die meisten Daten, die wir bisher gesehen haben, bestätigen nicht, dass globale Long-Only-Investoren tatsächlich bereits viel Geld in die Region bewegt und in einer globalen Asset Allokation übergewichtet haben.“
Was heißt das nun mit Blick auf den weiteren Jahresverlauf? Kann die momentane Outperformance europäischer Aktien gegenüber der US-Konkurrenz längerfristig anhalten? „Aus unserer Sicht ist es zu früh, von einer langjährigen Trendwende auszugehen, da das wirtschaftliche Umfeld in den USA aus diversen Gründen strukturell dynamischer bleiben dürfte als in Europa“, sagt Schumann. Zugleich ist er davon überzeugt, dass die Outperformance Europas durchaus noch ein wenig länger anhalten könnte. Dafür nennt er die folgenden vier Gründe:
- Günstige Bewertungen: Selbst nach der jüngsten Rallye ist Europas Bewertungsabschlag gegenüber dem US-Markt weiterhin sehr hoch. Sollten die Risikoprämien für Europa aus- und eine konvergierende Gewinnentwicklung zwischen den beiden Regionen eingepreist werden, deutet das auf weiteres Kurspotenzial hin.
- China: Das Ende der strengen Null-Covid-Politik und die damit einhergehende Öffnung der chinesischen Wirtschaft begünstigen europäische Unternehmen überproportional gegenüber US-amerikanischen.
- Ende der Niedrigzinsen: Die Normalisierung des Zinsumfelds begünstigt zinssensitive Sektoren wie Banken. Diese sind im europäischen Markt stärker gewichtet als im US-amerikanischen. Alles deutet darauf hin, dass sich das historische Zinstief der vergangenen Jahre nicht so schnell wiederholen dürfte.
- Milder Abschwung: Die jüngsten Wirtschaftsindikatoren legen nahe, dass sich Europas Wirtschaft weniger abschwächen könnte als in den USA. Dies, so Schumann, sei bisher noch nicht eingepreist.