Sie ist so sicher wie der Verkaufsbeginn für Lebkuchen im Spätsommer: Kaum werden die Tage kürzer, setzt die Spekulation über eine Jahresschlussrally am Aktienmarkt ein. Für die langfristige Geldanlage ist es zwar vollkommen egal, ob die Kurse im November oder April zulegen, Hauptsache die Unternehmen steigern langfristig ihren Gewinn je Aktie. Doch die Jahresschluss-Diskussion erzeugt deshalb wohl so viel Aufmerksamkeit, weil viele Gespräche über Investments sich um die Frage drehen: „Soll ich jetzt einsteigen?“. Eine für Privatanleger typischen Ausprägung ist zudem: „Soll ich jetzt noch einsteigen?“ beziehungsweise „Wäre ich mal eingestiegen“. Klar ist in jedem Fall: Wer Jahresschlussrally liest, denkt unbewusst: Schnell noch vor Weihnachten reich werden.
Und tatsächlich: Wer in diesem Herbst in Aktien investiert war, konnte sich an üppigen Kurszuwächsen erfreuen. Rund 6,5 Prozent hat der MSCI World (in Dollar) im laufenden Quartal bereits zugelegt, der Dax erreichte am Dienstag sogar ein Rekordhoch und übertrumpfte seine Bestmarke von Ende Juli.
Das hat allerdings nichts mit Saisonalität zu tun, also mit Fondsmanagern, die angeblich an Kursen rumbasteln, um ihren Bonus zu sichern. Oder mit automatischen Handelssystemen, die darauf handeln, dass alle wie immer zu dieser Jahreszeit auf eine Rally traden. Beide Effekte spielen in diesem Jahr keine wirkliche Rolle: Die jüngste Rally an den Kapitalmärkten ist vor allem verfrühten Frühlingsgefühlen der Investoren geschuldet.
Die Frühlingsgefühle lauten: Schon im Frühjahr werden die beiden wichtigsten Notenbanken, Federal Reserve (Fed) und Europäische Zentralbank (EZB), beginnen die Zinsen wieder zu senken. Der Auslöser dafür sind sinkende Inflationsraten: In den USA betrug der Preisauftrieb zuletzt nur noch 3,2 Prozent nach rund neun Prozent vor einem Jahr. In der Eurozone ist der Rückgang sogar noch deutlicher: Hier lag die Inflationsrate zuletzt nur noch bei 2,4 Prozent nach 10,1 Prozent vor einem Jahr. In beiden Währungsräumen streben die Notenbanken eine Inflationsrate von zwei Prozent an, die nun fast erreicht scheint. Dementsprechend stellen sich Investoren auf sinkende Zinsen ein.