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Kommentar Deutschlands bedingte Kapitulation

Das Gerede von der griechischen Kapitulation ist Unsinn. Wenn jemand die Waffen gestreckt hat, dann Deutschland. Von Gideon Rachman
Gipfeldiplomatie: Abseits der großen Runde traf sich Bundeskanzlerin Merkel mit dem griechischen Premier Tsipras (2.v.l.) - Foto: European Union
Gipfeldiplomatie: Abseits der großen Runde traf sich Bundeskanzlerin Merkel mit dem griechischen Premier Tsipras (2.v.l.) - Foto: European Union
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Gideon Rachman ist Kolumnist der Financial Times. Er schreibt über Wirtschaft und Politik (Foto: Interfoto)

Am Tag nach dem Euro-Gipfel von Brüssel hatten die Überschriften in Europa vor allem einen Tenor: Griechenland sei gedemütigt worden, ein übermächtiges Deutschland habe triumphiert, die Demokratie in Europa zerbrösele.

Was für ein Unsinn. Wenn irgendjemand kapituliert hat, dann Deutschland. Die deutsche Regierung hat sich grundsätzlich auf einen weiteren Milliarden-Bailout für Griechenland eingelassen – den dritten bis dato. Bekommen hat Deutschland dafür das Versprechen, dass Griechenland Wirtschaftsreformen umsetzt. Von einer Regierung, die gleichzeitig klar gemacht hat, dass sie all das ablehnt, womit sie sich gerade einverstanden erklärt hat. Die Syriza-Regierung wird alles tun, um den Deal zu unterlaufen, den sie selbst vereinbart hat. Wenn das ein Sieg Deutschlands sein soll, dann möchte ich nicht wissen, wie eine Niederlage aussehen würde.

Dann ist da die vermeintliche Geringschätzung der griechischen Demokratie – auch das ist Unsinn. Beim Referendum am 5. Juli ging es im Kern darum, dass der Rest der Eurozone Griechenland weiterhin Milliarden leihen soll – aber zu Bedingungen, über die Athen entscheidet. Das war nie realistisch. Was Griechenlands Freiheit des Handelns einschränkt, ist nicht das undemokratische Wesen der EU. Es ist die Tatsache, dass Griechenland pleite ist.

Neo-linke Fantasie

Das Argument, Griechenland verliere mit dem Kompromiss von Brüssel seine Souveränität, wird meistens damit begründet, dass das Land Vermögenswerte im Umfang von 50 Mrd. Euro privatisieren muss; und dass Ausländer den in Athen angesiedelten Fonds kontrollieren sollen. Wenn man sich die Geschichte der Korruption und des Klientelismus vieler griechischer Regierungen ansieht, klingt das wie eine sehr gute Idee. Allerdings erscheint es angesichts von Syrizas Widerstand gegen Privatisierungen unwahrscheinlich, dass auch nur annähernd eine Summe von 50 Mrd. Euro zusammenkommen wird.

Natürlich ist die Lage der Menschen in Griechenland schrecklich. Ich war vergangene Woche in Athen und ich empfinde großes Mitgefühl für viele, die ich dort getroffen habe und die um ihre Jobs, Ersparnisse und ihre Zukunft fürchten. Aber die Vorstellung, dass all das die Schuld grausamer Europäer ist, die ohne Sinn und Verstand einer ansonsten gesunden Nation Austerität auferlegt habe, ist eine neo-linke Fantasie. Griechenland ist jahrzehntelang schlecht regiert worden und hat weit über seine Verhältnisse gelebt.

Als die Krise begann, lag das Haushaltsdefizit bei über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts und der Privatsektor verweigerte dem griechischen Staat weitere Kredite. Ohne die Verlängerung der Kredite durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die EU hätte die Anpassung hin zu Austerität sofort und viel brutaler stattgefunden. Und es stimmt auch nicht, dass die Gläubiger vollkommen unflexibel gewesen wären. Die privaten Gläubiger haben 2012 schon einen Haircut hingenommen. Und die Rückzahlung der griechischen Schulden wurde auf die ferne Zukunft verschoben.

Die Griechen werden ihre Schulden nie zurückzahlen

Auch die Menschen in Deutschland, den Niederlanden oder Finnland haben jedes Recht, frustriert zu sein. Als sie dem Euro beigetreten sind, wurde ihnen gesagt, dass der Vertrag über die gemeinsame Währung eine „Keine Bailout“-Klausel enthält. Die Steuerzahler sollten sicher sein, dass sie niemals die Rechnungen anderer Euro-Staaten zahlen würden müssen.

Soviel dazu. Es gab Bailouts für Spanien, Portugal und Irland. Und drei Pakete für Griechenland. Ein weiterer 85-Mrd.-Euro-Kredit für Griechenland entspräche beinahe dem Zwei-Jahres-BIP Serbiens, einem mittelgroßen Land in der gleichen Region. Und was all das Gerede angeht, wonach sich die knausrigen Europäer weigerten, die griechischen Schulden abzuschreiben: In Wirklichkeit ist den meisten längst klar, dass Griechenland seine Schulden von jetzt schon 320 Mrd. Euro wohl nie voll zurückzahlen wird. Es fällt auf, dass die heftigsten Attacken gegen das kleinliche Europa von Ökonomen aus Staaten kamen, deren Steuerzahler in dieser Sache nichts zu befürchten haben.

Zur jüngsten Episode in der griechischen Krise gehört, dass sich ein Riss zwischen Frankreich und Deutschland aufgetan hat. Die französische Regierung ist als Verfechter für einen Verbleib Griechenlands im Euro und eine Lockerung der Austerität aufgetreten. Ohne Zweifel hat Frankreich hehre Motive, um den Griechen beizustehen, die mit europäischer Solidarität, Geopolitik und ähnlichem zu tun haben. Aber wenn ich deutscher Steuerzahler wäre, wäre mir beim Anblick des französischen Präsidenten Francois Hollande, wie er beim Verlassen des EU-Gebäudes den griechischen Amtskollegen Alexis Tsipras umarmt, das Blut in den Adern gestockt.

Flirt mit dem Grexit

Denn Frankreich hat auch ganz eigene Gründe, den Austeritätskurs in Europa umkehren zu wollen. Wir reden hier von einem Land, das nicht ein einziges Mal seit Mitte der 70er-Jahre einen ausgeglichenen Haushalt verabschiedet hat. Französische Regierungen tun sich beinahe genauso schwer wie die griechischen Kollegen, Strukturreformen in ihrer Wirtschaft durchzusetzen. Nach der jüngsten Krise dürften die Franzosen mit glänzenden Ideen für eine „Stärkung“ der Eurozone aufs Schlachtfeld zurückkehren – zum Beispiel einer EU-weiten Sozialversicherung. Ich frage mich, wen sie da als Financier im Auge haben?

Die Deutschen haben auf dem Gipfel mit dem Grexit geflirtet, um Griechenland zum Austritt aus der Eurozone zu zwingen. Sie haben einen Rückzieher gemacht, nachdem zahlreiche Warnungen laut wurden. Zum Beispiel die des luxemburgischen Außenministers, dass ein solches Vorgehen „fatal für Deutschlands Ruf in der EU und der Welt“ wäre. Um das nicht zu riskieren, hat die deutsche Regierung einem weiteren Bailout für Griechenland zugestimmt. Aber in Wirklichkeit vergiftet der Euro bereits die Haltung Deutschlands gegenüber Europa und die Haltung Europas gegenüber Deutschland.

Die ganze endlose Geschichte lässt mich an einen Satz dieses großen Deutschen denken, Karl Marx: Geschichte wiederhole sich „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Der nun beschlossene griechische Schuldendeal ist beides zugleich. Eine Farce und eine Tragödie.

Copyright The Financial Times Limited 2015

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