Der britische Premier Boris Johnson genießt nicht den Ruf, besonders entscheidungsfreudig zu sein. Bei den Verhandlungen über das künftige Verhältnis Großbritanniens zur EU nimmt der Druck aber stetig zu. Kommt es Ende Dezember mit Ablauf der Übergangsfrist zu einem geordneten Brexit oder droht das Chaos? Um ein umfassendes Vertragspaket wird dieser Tage in London noch einmal hart gerungen. Soll es noch eine Chance zur Umsetzung haben, muss Johnson aber eine Richtung vorgeben. Und das schnell.
Aus Verhandlungskreisen wird berichtet, die Europäer hätten in vielen Punkten die reine Lehre aufgegeben und statt roter Linien pragmatische Lösungen vertreten. Auf britischer Seite wird mangelnde Kompromissbereitschaft beklagt. Deren Unterhändler David Frost ziehe sich oft auf die Haltung zurück: Nichts darf die Souveränität Großbritanniens einschränken.
Worüber wird noch verhandelt?
Nach dem Austritt der Insel aus der EU am 31. Januar 2020 ist sie vorläufig noch Bestandteil des Binnenmarkts, der Zollunion und aller Verträge der EU. Die Beziehungen müssen aber neu geregelt werden. Das betrifft nicht nur Handelsfragen, sondern auch Verkehr, Datenschutz, Kriminalitätsbekämpfung und die Außen- und Sicherheitspolitik. Die EU bietet London eine dreifache Null-Lösung an: keine Zölle, keine Quoten, kein Dumping – also praktisch freier Zugang zum Binnenmarkt. Dafür soll das Königreich sich verpflichten, dass es sich keine unlauteren Wettbewerbsvorteile verschafft, indem es etwa Unternehmen stärker subventioniert oder sie einseitig bei Umwelt- und Sozialstandards entlastet. Dies wird unter dem Stichwort „Level Playing Field“ verhandelt. Auch die Freizügigkeit für EU-Bürger ist noch ein Knackpunkt.
Warum hat man kurz vor knapp noch kein Ergebnis?
EU-Chefunterhändler Michel Barnier wirft den Briten vor, das Beste aus beiden Welten zu wollen. Sie hätten noch nicht verstanden, dass eine Scheidung Folgen habe. Premier Johnson ist ein erratischer unberechenbarer Partner. Mal lässt er Fristen verstreichen, und ein Ende der Gespräche steht im Raum, dann kehren beide Seiten wieder an den Verhandlungstisch zurück. London muss eigentlich erpicht sein auf ein Freihandelsabkommen mit der EU, denn unter einem harten Bruch würde die britische Wirtschaft viel stärker leiden als die europäische. London will sich aber auf keinen Fall in die Fiskal- und Wirtschaftspolitik hineinreden lassen. Eine Lösung ist schwer vorstellbar. Lange galt der Streit um die Fischerei als größter Stolperstein. Hier scheint aber ein Übergangskompromiss für die Fangrechte von EU-Fischern in britischen Gewässern in Sicht.
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Hat Boris Johnson mit Trump auf das falsche Pferd gesetzt?
Johnson wollte bei der Bevölkerung eigentlich mit einem schnellen Handelsvertrag mit Washington punkten – dessen Vorteile die Nachteile eines chaotischen EU-Austritts demonstrativ übertünchen sollten. Für die Hardliner war ein Handelsabkommen mit den USA immer der Goldstandard, mit dem sie den Brexit gerechtfertigt haben. Nur hat die Abwahl von Freund Donald Trump Johnson einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nicht dass so ein Abkommen schon in der Tasche gewesen wäre – auch der gegenseitige Marktzugang für Agrarprodukte war höchst umstritten. Wenn nun aber der Demokrat Joe Biden ins Weiße Haus einzieht, gehört der Handel mit den Briten nicht zu den Prioritäten seiner ersten 100 Amtstage, wie ein hochrangiger Berater verlauten ließ. Schon gar nicht, wenn ein Abkommen vor allem symbolisch und nicht von großem wirtschaftlichen Gewicht wäre.
Was hält Joe Biden vom Brexit?
Der Demokrat mit irischen Wurzeln hat in der Vergangenheit kein Hehl daraus gemacht, dass er den Rückzug der Briten aus der EU und in die Isolation für falsch hält. Damit schwäche sich London – ein gern genutztes Einfallstor oder Brückenkopf in die EU für amerikanische Interessen – nur selbst. Im Präsidentschaftswahlkampf hat Biden sogar das britische Binnenmarktgesetz gerügt, mit dem die Tories den Handel auf der Insel mit Nordirland neu regeln und die im Scheidungsvertrag mit der EU gefundene Lösung wieder konterkarieren. Der designierte US-Präsident befürchtet, das Gesetz gefährde die offenen Grenzen und den Frieden auf der irischen Insel. Keine leicht zu nehmende Hypothek.
Führt Bidens Sieg zum Umdenken in London?
Boris Johnson hat zuletzt wieder seinen Willen beteuert, die Gespräche zu einem guten Abschluss zu bringen. Mutmaßlich will er für einen "High Noon" noch ein paar Regierungschefs einschalten. Der Parteiflügel der harten „Brexiteers“ sitzt ihm jedoch im Nacken. Und der läuft Sturm gegen alle Zugeständnisse an Europa, die die Wettbewerbsfreiheit und Souveränität einschränken würden. Je nachdem, was ihm die künftigen Beziehungen zu Washington wert sind, könnte Johnson – wie von der EU gefordert – das umstrittene Binnenmarktgesetz noch abändern und den Weg für einen Kompromiss bereiten. Das britische Oberhaus hat das Gesetz ohnehin gerade zerpflückt. Aber darüber kann sich die konservative Regierung mit ihrer Unterhausmehrhehit hinwegsetzen. Die Töne der Briten zu Beginn der entscheidenden Runde klangen versöhnlich. Ein Deal sei machbar, so Johnson. Es gebe auf beiden Seiten dafür den politischen Willen.
Wie dehnbar ist der Zeitdruck?
Ursprünglich war geplant, bis Ende Oktober eine Vereinbarung zu erzielen. So sollte sichergestellt werden, dass die Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten und Westminster den Deal noch fristgerecht bis zum 31.12.2020 ratifizieren. Laut Austrittsvertrag hätte die Übergangsfrist über das Jahresende hinaus verlängert werden können, um mehr Zeit zu gewinnen. Aber so eine Verlängerung hat Premier Johnson sogar gesetzlich ausgeschlossen. Die EU-Position lautete bisher, dass fristgerecht nur ratifiziert werden kann, wenn bis zum Wochenende 14./15. November ein Abschluss erzielt wird. Vermutlich könnte man das Verfahren trickreich noch dehnen und einige Karenztage herausholen.
Was geschieht ohne Einigung?
Es droht ein harter Brexit ohne Handelsabkommen. Großbritannien würde dann wie andere Drittstaaten behandelt und müsste sich mit Zöllen, Handels- und Reisebeschränkungen auseinandersetzen. Der früherer konservative Premierminister John Major gab in einem Interview eine arg düstere Prognose ab. Der Brexit werde noch brutaler ausfallen als weithin erwartet. Es werde ein Scheitern geben oder einen faulen, nichtssagenden leichten Deal, der höhere Handelsschranken bringe – ein „erbärmlicher Verrat“ jedenfalls an all den Versprechungen der Brexiteers von vermeintlich blühenden Landschaften. Das Versagen dieser Regierung bringe nur „Kosten und Komplexitäten“. „Wegen unseres polternden und überheblichen Auftretens, unserer Drohungen und fehlender Flexibilität wird unser Handel weniger einträglich, unser Staatssäckel leerer, unsere Jobs weniger und unsere Zukunft ärmer sein“, so Major.
Sind die Briten vorbereitet – Deal oder No-Deal?
Der im Londoner Kabinett für den Brexit zuständige Staatsminister Michael Gove musste sich zuletzt von der Wirtschaftsverbänden und dem Rechnungshof schwere Vorwürfe anhöre: Er liefere das Land einem möglichen harten Brexit völlig unvorbereitet aus. Der Zoll sei ungenügend ausgerüstet, Unternehmen würden bei der Umstellung allein gelassen, lebenswichtige Importkontingente von Gütern und Medikamenten nicht gesichert. Zwar hat die Regierung mit mehr als 50 Staaten Handelsverträge abgeschlossen, um jene der EU zu ersetzen. Schwergewichte wie Kanada oder die Türkei sind aber nicht darunter. Zugleich droht an den Grenzen blankes Chaos, mit Deal oder ohne. Auch ein neuer Handelsvertrag erfordert neue Verfahren. Bei einem „No-Deal“ wiederum würden die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) greifen, also unterschiedliche Zollsätze auf unterschiedliche Warengruppen.
Wer zahlt den höchsten Preis?
Gravierender wären die Schäden auf der britischen Seite des Kanals, weil die EU der größte Handelspartner ist. Bei einem Handelsvolumen von rund 1000 Mrd. Euro wickelten die Briten 2019 rund 50 Prozent ihrer Importe und 47 Prozent ihres Exportaufkommens mit dem EU-27-Block ab. Umgekehrt waren es nur vier Prozent der Exporte und sechs Prozent der Importe. Auch was Ausweichmöglichkeiten in Lieferketten angeht, stehen britische Firmen laut einer Ifo-Studie weit weniger flexibel da als europäische. Sie importieren viele Zwischenprodukte aus der EU von wenigen Zulieferern. Die Abhängigkeit ist groß. Auch die deutsche Wirtschaft ist aber betroffen, da viele Importgüter nicht leicht zu ersetzende Zwischenprodukte sind, wie etwa spezielle Antriebsmotoren oder chemische Stoffe.

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