Corona-Lockerungen, neue Freiheiten, steigende Konsumlaune. Das vorläufige Ende des Lockdowns gegen die Pandemie schürt auf der britischen Insel neuen Optimismus. Nicht nur Premier Boris Johnson verbreitet Zuversicht. Auch Wirtschaftsprognosen lassen auf einen stabilen Aufschwung hoffen. Die Zeichen stehen gut für eine Erholung in der zweiten Hälfte des Jahres. Um rund 10 Prozent war das Bruttoinlandsprodukt 2020 in den Keller gerauscht. Nun sagt die Bank von England der Volkswirtschaft 2021 das stärkste Wachstum seit dem Zweiten Weltkrieg voraus. Ende des Jahres sei das Vorkrisenniveau erreicht.
Das klingt reichlich überschwänglich. Denn die Corona-Pandemie und der Brexit drückten die britische Wirtschaft zum Jahresbeginn wieder ins Minus. Um 1,5 Prozent schrumpfte das BIP im ersten Quartal, wie das Statistikamt ONS jetzt mitteilte. Demnach liegt die Wirtschaftsleistung immer noch 8,7 Prozent unter dem Vorkrisenniveau des vierten Quartals 2019.
Hinzu kommt, dass immer noch niemand so richtig weiß, wie der Vollzug des Brexit sich genau auswirken wird: Im ersten Quartal – dem ersten seit dem geregelten Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt – verheißen die Zahlen jedenfalls wenig Gutes für den Handel: Erstmals seit 1997, als entsprechende Statistiken aufgesetzt wurden, übertrafen die Importe aus Nicht-EU-Ländern jene aus der Europäischen Union. Ob diese Verschiebung kurzfristiger Natur oder längerfristigen Anpassungen von Lieferketten geschuldet sind, vermochte das ONS nicht zu beurteilen.
Bürokratie und Kosten
Auch eine Umfrage der Deutsch-Britischen Handelskammer zeigte dieser Tage nach der Ratifizierung des Handelsabkommens zwischen Brüssel und London eine optimistischere Stimmung als im Herbst, als noch ein harter Brexit drohte. Jedes dritte befragte Unternehmen plant demnach heute höhere Investitionen (fünf Prozent 2020), nur jedes zehnte weniger (20 Prozent 2020). 44 Prozent wollen sogar neue Mitarbeiter einstellen.
Unübersehbarer Fakt ist indes: Die Umsetzung des Brexits hat zu weiteren Umsatz- und Ergebniseinbrüchen geführt – wegen zusätzlicher Verwaltungskosten, Zöllen und Abgaben sowie gestiegener Transportkosten. Nach einer Umfrage der Beratungsfirma KPMG und der British Chamber of Commerce in Germany (BCCG) unter zum Großteil in Deutschland ansässigen Firmen hat eines von sechs Unternehmen daher den Außenhandel mit Großbritannien ganz eingestellt. Zu neuen Lieferanten abseits des deutsch-britischen Korridors wollten 22 Prozent wechseln, weitere 13 Prozent ersetzen den Import durch lokale Lieferanten.
Wie sich das auf britischer Seite niederschlägt, ist noch nicht richtig absehbar: Dort hat die Regierung die neuen Bürokratieanforderungen beim Import noch einmal aufgeschoben. Und dennoch wird vieles komplizierter. Ein Überblick über einige heikle Brexit-Baustellen:
Das sind offene Brexit-Baustellen

Die dem Brexit geschuldeten höheren bürokratischen Hürden und Kosten im Handel haben zumindest den Ausfuhren französischer Winzer nicht geschadet. Die führenden Versorger britischer Weintrinker haben Erfahrung im internationalen Handel – und auf der Insel offenbar große Zwischenlager angelegt. Insgesamt ist der EU-Handel mit Kunden jenseits des Ärmelkanals aber im ersten Quartal 2021 stärker gesunken als erwartet. Das britische Statistikamt meldete einen Rückgang der Importe aus der EU um 13,9 Prozent, fast doppelt so stark wie vorhergesagt. Britische Exporte sanken um 7,5 Prozent. Immerhin habe sich im Automobilsektor im März eine leichte Besserung gezeigt.

Wie in dem erst in letzter Minute geregelten Grenzverkehr zwischen Gibraltar und Spanien bleiben viele Unwägbarkeiten. Die Unsicherheit belastet das Verhältnis, wie die Umfrage der Deutsch-britischen Handelskammer zeigt. Knapp zwei Drittel der befragten Firmen erwarten trotz Handelspakt mit zollfreiem Warenverkehr von Handelsbarrieren und Zollformalitäten in den nächsten zwölf Monaten größere Probleme für ihr Geschäft als von anhaltenden Reisebeschränkungen wegen der Corona-Krise (56 Prozent). Jeder dritte Betrieb befürchtet rechtliche Unsicherheiten. Daraus ziehen viele Konsequenzen: 41 Prozent haben wegen des Brexit ihre Lieferketten umgestellt. Als Hauptgründe wurden regulatorische Unsicherheit, höhere Kosten und der Wunsch nach Diversifizierung genannt.

Im britischen Stilton wird die gleichnamige Käsespezialität zum Mai-Feiertag in Paraden durch die Straßen gerollt. Die Käse-Exporte von der Insel sind wie die für alle Milchprodukte drastisch eingebrochen. Milch- und Sahneausfuhren fielen im Februar zum Vorjahr um 97 Prozent; Käse um 65 Prozent auf ein Volumen von gerade einmal 14,5 Mio. Pfund. Es erweist sich als große Handelshürde, dass London und die EU ungeachtet des Handelsabkommens ihre phytosanitären Vorschriften nicht angeglichen haben. Das bleibt eine Baustelle. Wegen der Lebensmittelkontrollen, die Zeit, Geld und bürokratischen Aufwand kosten, sind im Februar insgesamt 40 Prozent weniger britische Lebensmittel und Getränke in die EU exportiert worden. Die Branche liefert von ihren Gesamtausfuhren im Wert von knapp 15 Mrd. Pfund bisher mehr als die Hälfte an die EU-Mitgliedsländer.

Die Stimmung zwischen Protestanten und Katholiken ist aufgeheizt, weil Nordirland sich als Verlierer des Brexit sieht. Auch von dem Konfliktpotential rund um gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Standards ist die britische Provinz am stärksten betroffen. Sie exportiert drei Viertel ihrer Agrar- und Lebensmittelprodukte – vor allem Fleisch, der Sektor ist ihre größte Industrie. Nordirland hat zwar keine „harte“ Grenze zur EU (die Grenze zur Republik Irland bleibt offen), aber der Handel verläuft nicht reibungslos. Auch nicht mit den Briten: Die Zollgrenze verläuft nun in der Irischen See, was bedeutet, dass viele Waren kontrolliert und manche gar nicht mehr geliefert werden können. Regierungschefin Arlene Foster, die von der britischen Regierung eine Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls zum Post-Brexit-Handelsabkommen erwartete, trat zurück. Sie hatte die Unruhen als Druckmittel eingesetzt.

Irlands Fährhäfen florieren nach dem Brexit. Oberflächlich profitiert die Republik vom Brexit durch intensivere Beziehungen zum europäischen Festland, was sich in einem Anstieg des Handelsvolumens um 80 Prozent widerspiegelt. Konfliktpotential birgt aber auch die Fischerei und Landwirtschaft als bedeutender Arbeitgeber im ländlichen Raum, für die Großbritannien der oft einzige und wichtigste Handelspartner im europäischen Binnenmarkt war. Nach offiziellen statistischen Angaben wurden in den ersten zwei Monaten 2021 um 35 Prozent weniger Lebensmittel und Getränke an die Briten geliefert als zum Jahresbeginn 2018. Andere Exportmärkte konnten den Verlust nicht ausgleichen.

Die Kanalinsel Jersey überraschte französische Fischer mit Begrenzungen bei Fanglizenzen. Die Verantwortlichen nutzten eine vermeintliche Grauzone und schrieben den Fischern vor, nur bestimmte Fischarten zu fangen. Daraufhin tuckerte eine Flotte von Kuttern zur Blockade in den Hafen von St. Helier. Der Streit schaukelte sich so weit hoch, dass Frankreich damit drohte, der Insel den Strom abzustellen, und beide Nachbarn Patrouillenboote ihrer Marine entsandten. Die EU-Kommission warf Großbritannien vor, das Handelsabkommen durch einseitige Einschränkungen zu brechen. Downing Street konterte, die Behörden von Jersey hätten in vollem Recht gehandelt. Fürs erste zogen die französischen Kutter nach der „Demonstration der Stärke“ ab. Aber die britische Marine bleibt in Bereitschaft.

Es hagelte Kritik aus der EU, als übereifrige Grenzbeamte dieser Tage rund 30 EU-Bürger aus Deutschland, Italien, Griechenland und Spanien bei der Einreise festsetzten und tagelang festhielten. In diesem „konsularen Bereich“ sind britische Grenzbeamte berechtigt, EU-Bürgern die Einreise zu verweigern, wenn sie den begründeten Verdacht haben, diese wollten ohne Arbeitsvisum einer Tätigkeit nachgehen. Weil die Freizügigkeit im EU-Binnenmarkt wegfällt, sind für grenzüberschreitende Dienstleistungen nun in vielen Fällen Visa nötig. Auf das Vereinigte Königreich komme ein Fachkräftemangel in vielen Bereichen zu, warnen Experten. Zum anderen sehen Unternehmen für Themen wie Mitarbeiterentsendung und Finanzdienstleistungen zu einem hohen Maß Probleme auf sich zukommen.