Die Menschen sind genervt. Der öffentliche Nahverkehr, die Bahn, die Lufthansa, überall wird immer wieder gestreikt. Was bedeutet das für die Verkehrswende? Sind bald alle wieder mit dem Auto auf der Straße unterwegs?
ANDREAS KNIE: Für die Verkehrswende sind es sehr schwierige Zeiten. Insbesondere die Bahn, die dafür ein alternativloses Verkehrsmittel ist, hat sich als äußerst unzuverlässig erwiesen. Das ist fatal, weil sich viele Leute nach der Hochphase der Pandemie und den Lockdowns neu orientiert hatten. Bahn und Busse waren auf gutem Wege, wieder Vor-Corona-Zahlen zu erreichen. Durch die Streikaktionen wird dieser Trend brutal gebremst.
Ab Donnerstag sind unter anderem die Bahn-Beschäftigten wieder im Ausstand. Es wird mittlerweile viel auf GDL-Chef Weselsky geschimpft. Ist das Verkehrschaos, das er bei der Deutschen Bahn verursacht, noch zielführend?
Bei aller Kritik an den Streikaktivitäten muss man festhalten, dass das Streikrecht ein Grundrecht in Deutschland ist. Wir haben in den unteren Lohngruppen bei Bussen und Bahnen wirklich Nachholbedarf. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass die Deutsche Bahn in den höheren Hierarchiestufen sehr üppige Löhne zahlt. Das ist das moralische Rüstzeug von Claus Weselsky. Zu Tarifverhandlungen gehört aber Kompromissbereitschaft. Und die sehe ich bei beiden Partnern nicht, obwohl sie jetzt schon monatelang verhandeln. Sie nehmen die Fahrgäste in Geiselhaft, weil sie es können. Der Skandal ist, dass die führenden Köpfe der Verhandlungskommission selbst nicht im Geringsten betroffen sind, weil sie gar nicht mit der Bahn fahren, sondern mit Dienstwagen und Chauffeuren.
Das heißt, die gestrandeten Passagiere oder Reisenden erdulden das Verkehrschaos gar nicht mehr für eine gute Sache?
Nein, das hätten sie, wenn es im Januar oder Februar zu einer Einigung gekommen wäre. Für eine Gewerkschaft muss Streik das allerletzte Mittel sein, um ihre Argumente durchzudrücken. Aber dann ist Schluss, dann muss es eine Einigung geben. Offenbar geht es bei der Bahn um ganz andere Dinge: persönliche Eitelkeiten und Profilierungssucht beispielsweise. Deshalb fehlt den Menschen auch jegliche Akzeptanz für den Bahnstreik. Der Verkehrswende hilft das überhaupt nicht.
Andererseits: Wenn die Forderungen der Beschäftigten erfüllt werden, werden die Jobs auch attraktiver. Das würde die Verkehrswende voranbringen, oder nicht?
Attraktive Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen, ist natürlich wichtig. Wir brauchen in den unteren Tarifstrukturen gute Bedingungen, damit die Leute dort arbeiten wollen. Sie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass eine Verkehrswende wirklich funktioniert. Das gilt sowohl für die Bus- als auch für die Zugfahrenden im Nahverkehr. Gute Qualität gibt es nicht dauerhaft auf dem Rücken gebeutelter Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Bei den Löhnen und Arbeitszeiten muss nachgebessert werden. Nur das dauert zu lange. Die Leute verlieren den Glauben an die Bahn und öffentliche Verkehrsmittel.
Nicht nur die GDL, auch Verdi ruft die Beschäftigten bei Lufthansa am Donnerstag und Freitag zum Warnstreik auf. Fliegen ist damit an diesen Tagen also keine Alternative. Ist gleichzeitiges Streiken und möglichst viel an Infrastruktur im Land lahmzulegen, der neue Trend?
Ich glaube nicht, dass das von den Gewerkschaften strategisch gewollt war. Wir haben derzeit eine gewisse Krawallkultur. Jeder möchte massiv auf seine eigenen Interessen hinweisen. Dabei werden ausgerechnet die Verkehrsmittel eingeschränkt, die die Alternative zum Auto sein sollen. Der Irrwitz ist, dass ausgerechnet Fridays for Future, die mit Verdi zusammen gute Politik machen wollen, es schaffen, das Auto zum großen Gewinner zu machen. Dabei wollen eigentlich alle die Verkehrswende. Aus Gewerkschaftssicht ist das unglücklich. Ich hätte mir ein schlaueres Timing gewünscht.
Sind die Warnstreiks bei der Lufthansa gerechtfertigt?
Die Lufthansa hat sich in der Vergangenheit sehr stark mit dem fliegenden Personal beschäftigt. Von denen kann sich keiner mehr beschweren. Aber auf dem Boden, bei den Abfertigungsdiensten oder auf dem Vorfeld, da sind die Arbeitsbedingungen immer noch prekär. Der Streik ist also berechtigt, er wird auch nicht der letzte bleiben. Übrigens, günstige Flugtickets gibt es nur, weil Teile der Wirtschaft oder der Wertschöpfungskette, nämlich die, die am Boden die unsichtbaren Dienste leisten, einfach zu schlecht bezahlt werden. Das sollte man sich dabei immer klarmachen.
Auch der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) hat schon zeitgleich mit der Bahn gestreikt. Sind die Probleme hier ähnlich gelagert?
Auch die ÖPNV-Unternehmen bezahlen zu schlecht und die Arbeitsbedingungen sind zu unattraktiv. Der Dienst ist brutal und die Flexibilität gering. Nah- und Fernverkehr haben zudem noch eine Gemeinsamkeit: Beide fahren mit einem gigantischen Verwaltungs-Wasserkopf durch die Gegend, der üppig bezahlt wird. Insofern ist es das gute Recht der Busfahrer, jetzt ihren Anteil zu fordern.
Demografie hat einen Vorteil: Sie lässt sich wunderbar vorhersagen. Wenn die Babyboomer in Rente gehen, wird der Personalmangel noch größer, als er ohnehin schon ist. Die Belastung für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wird zunehmen. Hätte man nicht bereits entsprechend Vorsorge treffen müssen?
Deutschland lügt sich bei den Themen Lohnstruktur und Arbeitskräftemangel in die Tasche. Wir werden nur dann unseren Wohlstand erhalten, wenn wir uns konsequent als Zuwanderungsland definieren. Wir haben bislang nur kleine Schlupflöcher geöffnet. Nach wie vor ist es jedoch schwer bis unmöglich, sich als nicht EU-Bürger hierzulande einbürgern zu lassen. Das müssen wir ändern. Das ist das eine. Und das andere ist, dass wir bei der Verkehrswende immer gebetsmühlenartig gesagt haben, das Rückgrat sei der öffentliche Personennahverkehr. Allerdings ohne ihn genauer anzuschauen. Das ist ein riesiger Verbandsverbund, der die Hälfte des Geldes wegfrisst, ohne produktiv zu sein. Hier sind Reformen fällig, um Geld für die produktiven Dienste zu haben.
Einige Experten prognostizieren bereits, dass die Streiks, die wir derzeit sehen, erst der Anfang sind. Ist die Verkehrswende dann nicht bald am Ende?
Wir haben in den letzten 20 Jahren in einer heilen Welt gelebt. Harte Tarifauseinandersetzung hatten wir früher oft. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche beispielsweise, das war hart. Auch so was wie Generalstreiks haben wir damals gesehen. Was wir aktuell erleben, fängt gerade erst an, ruppiger zu werden. Grundsätzlich sind vernünftige Arbeitsbedingungen entscheidend. Aber die Struktur des Nahverkehrs muss stimmen und das tut sie gerade nicht. Was wir auch dringend brauchen, ist ein Wille zur Einigung und hier blockt Herr Weselsky ganz persönlich.
Sind wir in den vergangenen Jahren überhaupt vorangekommen?
Eigentlich fangen wir gerade erst an, richtig darüber nachzudenken. Vor vier, fünf Jahren hat noch keiner über zu viele Autos diskutiert. Jetzt sind wir schon bei der Erkenntnis angelangt, dass parkende Autos, die exklusiv für die Autohalter im öffentlichen Raum stehen, verschwinden müssen. Ich bin optimistisch. Ich glaube, dass wir auf gutem Wege sind. Aber es braucht halt Zeit. Es ist ein wenig wie mit einer Ketchup-Flasche. Am Anfang kommt nur ein bisschen raus. Aber später wird noch sehr viel mehr kommen.
Das Interview ist zuerst bei ntv.de erschienen.