Paul Zak hat als Wirtschaftsprofessor Pionierarbeit geleistet: Im kalifornischen Claremont gründete er das erste Graduiertenprogramm für Neuroökonomie, die Wirtschafts- und Nervenwissenschaften verbindet. Sein Essay wurde bereits in Capital 04/2012 veröffentlicht. In die Diskussion über die Umarmung von Wirtschaftsminister Philipp Rösler und "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann bringt der Text eine neue Facette.
Wenn wir großzügig sind und Vertrauen schenken, ist das bloße Chemie. Im Gehirn wirkt dann ein ganz spezieller Stoff. Neuroökonomen sind dem Oxytocin auf die Spur gekommen
Ist an uns Menschen irgendetwas einzigartig? Ja. Wir sind die einzigen Lebewesen mit voll entwickelten moralischen Empfindungen. Als soziale Wesen sind wir besessen von Moral.
In meinem Fall ist meine Mutter schuld, ich konnte als Messdiener reichlich Weihrauch atmen. Aber ich sah auch, dass religiöse und nichtreligiöse Menschen gleichermaßen von Moral besessen sind. Deshalb habe ich immer vermutet, dass es einen irdischen Grund für moralische Entscheidungen geben könnte. Eine Art Chemie der Moral - ein Moralmolekül.
Nach zehn Jahren des Experimentierens habe ich es gefunden: Es heißt Oxytocin. Es ist ein einfaches und uraltes Molekül, das man nur bei Säugetieren findet. Bei Nagetieren sorgt es dafür, dass Mütter sich um ihre Nachkommen kümmern, bei einigen Lebewesen ermöglicht es das Zusammenleben im Bau. Bei Menschen war nur bekannt, dass es Frauen die Geburt und das Stillen erleichtert und von beiden Geschlechtern beim Sex ausgeschüttet wird.
Ein schüchternes Molekül
Meine Idee, dass Oxytocin das Moralmolekül sein könnte, war auf den ersten Blick vielleicht ziemlich blöd. Aber sie war überprüfbar blöd. Deshalb habe ich ein Experiment gesucht, um sie zu testen.
Das war nicht so einfach, denn Oxytocin ist ein schüchternes Molekül: Ohne eine Stimulation zur Ausschüttung kommt es praktisch gar nicht vor. Nach der Ausschüttung hat es eine Halbwertszeit von drei Minuten und zerfällt bei Raumtemperatur schnell. Das Experiment musste also einen Schub von Oxytocin auslösen, dieses schnell erfassen und kühl halten. Zudem musste ich die Moral messen. Dazu fing ich klein an und studierte nur eine einzige Tugend: Vertrauenswürdigkeit.
Ich hatte in früheren Arbeiten schon gezeigt, dass Länder mit einem höheren Anteil vertrauenswürdiger Menschen wohlhabender sind. Dort gibt es mehr wirtschaftlichen Austausch, und die Armut wird dadurch verringert. Wer also die Chemie der Vertrauenswürdigkeit versteht, könnte helfen, die Armut zu lindern.
Wie misst man nun Vertrauenswürdigkeit? Im Labor führten wir die Leute mit Geld in Versuchung: Wir engagierten sie für ein Experiment, alle bekamen dafür 10 Dollar. Wir gaben ihnen viele Anweisungen, und wir waren dabei immer ehrlich. Dann schaltete ein Computer Paare zusammen, und die eine Person bekam jeweils folgende Nachricht: "Möchten Sie einen Teil Ihrer 10 Dollar jemand anders im Labor zukommen lassen?" Man konnte die andere Person nicht sehen, nicht mit ihr reden. Das gespendete Geld wurde auf dem Konto des anderen verdreifacht, und der Empfänger erhielt folgende Nachricht: "Person eins hat Ihnen so und so viel Geld geschickt. Möchten Sie alles behalten oder etwas zurücksenden?" Stellen Sie sich die Situation kurz vor: Sie sitzen eineinhalb Stunden auf einem harten Stuhl. Ein verrückter Forscher sticht eine Nadel in Ihren Arm und entnimmt Blut. Und jetzt sollen Sie einem Fremden Geld anvertrauen? Wir haben festgestellt, dass 90 Prozent der Erstentscheider Geld schickten. Und 95 Prozent der Empfänger gaben etwas zurück. Warum taten sie das?
Biologie der Vertrauenswürdigkeit
Es zeigte sich, dass die zweite Person umso mehr Oxytocin produzierte, je mehr Geld sie erhielt. Und je mehr Oxytocin sie produzierte, desto mehr Geld gab sie zurück. Es gibt eine Biologie der Vertrauenswürdigkeit.
Mithilfe eines Naseninhalators ist es uns später gelungen, direkt auf das Gehirn einzuwirken. Zusammen mit Kollegen in Zürich gaben wir 200 Personen Oxytocin oder ein Placebo und führten den Test durch. Jene unter Oxytocin zeigten nicht nur mehr Vertrauen. Wir konnten die Zahl der Leute verdoppeln, die ihr ganzes Geld einem Fremden schickten - ohne Stimmung oder Wahrnehmung zu verändern.
Ist Oxytocin also das Moralmolekül? In weiteren Studien mit dem Inhalator zeigten wir, dass es die Großzügigkeit bei einseitigen Transfers um 80 Prozent und die Bereitschaft zu wohltätigen Spenden um 50 Prozent erhöht. Wir untersuchten auch nichtpharmakologische Wege, den Oxytocingehalt zu steigern, etwa Massagen, Tanzen oder Beten. Wann immer wir den Oxytocinlevel steigerten, öffneten die Menschen bereitwillig ihre Geldbeutel und teilten mit Fremden.
Warum tun sie das? Wir zeigten Probanden auch das Video eines Vaters und seines kleinen Sohns, der einen Hirntumor hat. Danach sollten die Teilnehmer ihre Gefühle bewerten. Und wir entnahmen vor- und nachher Blut, um das Oxytocin zu messen. Die Änderung des Levels sagte das Ausmaß des Mitgefühls vorher. Das Mitgefühl verbindet uns mit anderen.
Diese Idee ist nicht neu: Adam Smith sagte schon 1759 in seiner "Theorie der ethischen Gefühle", dass wir moralische Wesen sind - und zwar aus einem Grund, der nicht von oben, sondern von unten kommt:
Als soziale Wesen teilen wir die Gefühle anderer. Tue ich etwas, das dich verletzt, fühle ich den Schmerz. Daher vermeide ich das. Tue ich etwas, das dich glücklich macht, fühle ich deine Freude. Also tue ich das eher.
Smith schrieb später den "Wohlstand der Nationen", das Gründungswerk der Ökonomie. Er war ein Moralphilosoph, und er wusste, warum wir moralisch handeln. Ich habe nur das Molekül dazu gefunden. Wir wissen jetzt, was moralisches Verhalten stärkt und dämpft. Und woher unmoralisches Verhalten kommt.
"Ich wurde betrogen"
Ich muss Sie dazu kurz ins Jahr 1980 zurückführen, damals arbeitete ich an einer Tankstelle, und da erlebt man im Lauf der Zeit viel Moral und Unmoral. Eines Tages kommt ein Mann mit einer Schmuckkassette zur Kasse, es liegt eine Perlenkette drin. Er sagt: "Hey, ich habe das auf der Toilette gefunden. Was machen wir?" Wir reden noch, da klingelt das Telefon. Der Anrufer ist sehr aufgeregt: "Ich war eben bei Ihnen, und jetzt kann ich den Schmuck, den ich für meine Frau gekauft habe, nicht finden." Ich sage: "Perlenkette?
Die hat eben jemand gefunden." Der Anrufer: "Sie retten mich! Der Mann soll warten, ich bin gleich da, er kriegt 200 Dollar Belohnung." Ich erzähle das dem Finder: "Alles wird gut. Sie kriegen eine fette Belohnung. Das Leben ist gerecht." Aber er sagt: "Ich kann nicht. Ich muss zu einem Vorstellungsgespräch. Ich brauche den Job. Ich muss gehen." Er fragt mich wieder: "Was sollen wir tun?" Ich bin noch Schüler, habe keine Ahnung und sage also: "Ich hebe es für Sie auf." Darauf er: "Ach, Sie waren so nett, wir teilen die Belohnung. Ich gebe Ihnen den Schmuck. Sie geben mir 100 Dollar, und wenn der Mann kommt ..." Sie ahnen es: Ich wurde betrogen.
Es war ein klassischer Trickbetrug. Viele Tricks funktionieren so: Es geht zunächst nicht darum, dass das Opfer dem Betrüger vertrauen soll. Der Betrüger zeigt vielmehr Vertrauen in das Opfer. Wir wissen, was passiert: Das Gehirn des Opfers setzt Oxytocin frei. Und es öffnet die Geldbörse.
Wer sind diese Menschen, die uns so manipulieren? Tests haben ergeben, dass fünf Prozent der Bevölkerung kein Oxytocin freisetzen, wenn sie einem Reiz ausgesetzt werden oder wenn man ihnen vertraut. Liegt Geld auf dem Tisch, behalten sie alles für sich. In meinem Labor nennen wir diese Leute "Dreckskerle".
Mit ihnen will man nichts zu tun haben, sie zeigen viele Merkmale eines Psychopathen. Das System wird auch unterdrückt, wenn es nicht richtig gepflegt wird. Wir haben Frauen mit Missbrauchserfahrung untersucht, und die Hälfte produziert kein Oxytocin. Auch viel Stress bremst Oxytocin.
Yin und Yang der Moral
Interessanterweise wird Oxytocin auch gehemmt, wenn Testosteron ins Spiel kommt. Wir haben Männern in Experimenten Testosteron verabreicht, und statt zu teilen, wurden sie selbstsüchtig. Männer mit viel Testosteron neigen allerdings dazu, ihr Geld einzusetzen, um andere für ihre Selbstsucht zu bestrafen.
Wir vereinen in unserer Biologie also das Yin und Yang der Moral. Wir haben Oxytocin, das uns mitfühlen lässt. Und wir haben Testosteron, Männer zehnmal so viel wie Frauen. Testosteron bringt uns dazu, unmoralische Menschen bestrafen zu wollen. Kein Gott und keine Regierung sind nötig. Es ist in uns drin.
Es ist übrigens ganz leicht, ein Gehirn zur Oxytocinproduktion anzuregen. Am schönsten finde ich die einfachste Methode: Umarmungen. Meine Vorliebe dafür hat mir den Spitznamen Dr. Love eingebracht. Mein Rezept: Menschen, die mehr Oxytocin freisetzen, sind glücklicher, weil sie bessere Beziehungen aller Art haben. Acht Umarmungen täglich - dann sind Sie glücklicher, und die Welt wird ein besserer Ort sein.