Das ist der letzte Teil einer Artikelreihe, in der Financial-Times-Autor Peter Spiegel die entscheidende Tage der Eurokrise nachzeichnet. In Teil 1 ging es um die dramatischen Ereignisse beim G20-Gipfel im November 2011 in Cannes: Als Merkel um den Euro weinte, Teil 2 handelte vom Beinahe-Rausschmiss Griechenlands: Wie die Griechen dem Grexit entgingen
Als Angela Merkel den Zettel gereicht bekam, den Barack Obama gerade herum gegeben hatte, wurde sie aufmerksam. „Was ist das?“, fragte die deutsche Bundeskanzlerin. „Das habe ich noch nie gesehen.“ Für den US-Präsident war der Zettel eine Vorlage, die er und seine sieben europäischen Amtskollegen im Raum unterstützen konnten, wenn der G20-Gipfel im mexikanischen Los Cabos an diesem Nachmittag enden würde.
Viele der Dinge gaben genau wieder, was vorher bereits auf formalem Wege akzeptiert worden war. Aber der letzte Punkt sei neu gewesen, berichten Beamte, die das Papier gelesen haben. Dort wurde einem Plan Unterstützung gewährt, der bisher nur informell vorgebracht worden war und zwar von dem Mann, der neben Angela Merkel saß, von Mario Monti, dem italienischen Ministerpräsidenten.
An diesem Plan hatten er und seine engsten Berater monatelang vor dem G20-Treffen im Juni 2012 gefeilt. Der Plan sah vor, dass die Europäische Zentralbank Euroländer schützen würde, sollten sie ins Visier der Finanzmärkte geraten. Die EZB würden dann automatisch deren Anleihen kaufen. Nur „tugendhafte“ Länder, die sich an die Haushaltsregeln der EU hielten, kämen dafür infrage. Aber der Monti-Plan würde sicherstellen, dass die Kreditkosten Italiens und Spaniens – die bereits wieder auf gefährliche Höhen gestiegen waren – niedrig blieben.
„Wir wollten etwas entwickeln, das nicht gefährlich wäre für die Kontrolle der Geldversorgung, das dem deutschen Purismus nicht anstößig vorkäme, das konkret helfen würde, die Renditeaufschläge zu senken, etwas, das aber nur verdient werden könne bei gutem Verhalten“, sagte Monti der Financial Times.
Amerikanisch-italienische Allianz
Merkel wurde beim Lesen des Blattes immer ärgerlicher. „Sie war richtig wütend“, sagt jemand, der auch im Raum war. Auch, wenn ihr Widerstand vor allem etwas mit der Art und Weise Montis zu tun hatte, war es klar, dass die italienische und die amerikanische Delegation sich zusammengetan hatten, um Merkels Unterstützung für einen Plan zu gewinnen, der die Art und Weise der Krisenbekämpfung durch die Eurozone grundlegend verändert würde.
Seit Ausbruch der Krise hatte sich Washington für eine EZB-gestützte Brandmauer eingesetzt. Die Amerikaner hatten betont, dass die US-Notenbank Fed beim Kampf gegen die amerikanische Bankenkrise unerlässlich gewesen sei. In Mario Monti sah das Weiße Haus seinen engsten Alliierten, auch weil der französische Präsident Nicolas Sarkozy einen Monat zuvor nicht wiedergewählt worden war.
Obama drängte Merkel, den geschwächten Italiener zu unterstützen. Nur Wochen zuvor hatte er ihr bei einem vertraulichen Treffen an einem Picknick-Tisch auf der Terrasse seiner Aspen-Hütte in Camp David gesagt: „Sie müssen mit ihm zusammenarbeiten.“
Als Obama in Los Cabos aber die Verärgerung Merkels sah, drehte er sich zu seinem Berater Michael Froman um, dem Abteilungsleiter des Weißen Hauses für Internationale Wirtschaftsfragen. Er fragte ihn, ob er den neuen Plan auch allen Delegationen habe zukommen lassen – eine Geste, in der viele einen eleganten Weg sahen, den Streit zu beenden. Als Froman verneinte und den Fehler zugab, war die Diskussion vorbei.
die letzte Phase der Krise
Zu diesem Zeitpunkt war der Los-Cabos-Krach nur der letzte in einer ganzen Reihe von gescheiterten Versuchen Obamas und seiner EU-Partner Merkel dazu zu bewegen, mit einer höheren Brandmauer die bedrängten Euro-Länder zu schützen. Im Jahr zuvor hatte er sich mit Sarkozy beim G-20-Gipfel in Cannes zusammengetan; jetzt war es Monti.
Im Rückblick begann hier die letzte Phase der Krise. Drei Monate nach dem gereizten Wortwechsel stimmte Merkel stillschweigend einem ähnlich ambitionierten Anleihe-Kauf-Programm zu, das von einem anderen italienischen Technokraten entworfen worden war, von EZB-Chef Mario Draghi. Damit konnte die EU die existenzielle Krise beenden, in der sie für mehr als drei Jahre gesteckt hatte.
Dieser Plan wurde vorgestellt nachdem EZB-Mitarbeiter einen bewegten Sommer lang an ihm gearbeitet hatten. Schließlich kündigte Draghi an, „zu tun, was immer nötig war“, um den Euro zu retten. In diesem Plan wird seitdem der letzte Akt der Krise gesehen. Aber Draghis Programm hätte wohl nicht die Märkte beruhigt ohne Merkels Einverständnis - das sie gab, obwohl die mächtige Bundesbank sich öffentlich gewehrt hatte. Dieser unauffällige politische Sieg wurde zum Herzstück des EZB-Erfolges.
Diejenigen, die mit Merkel in dieser Zeit sprachen, sagen, dass ihre Zurückhaltung gegenüber Monti in ihrer Sicht auf die Eurozone wurzelte und wie diese arbeiten solle. Es sei nicht die Aufgabe eines Politikers, Zinsraten festzulegen. Wenn sich die EZB aber von allein zu so einem Plan entschlösse, sei das eine legitime Entscheidung für eine unabhängige Zentralbank.
Aber laut vielen offiziellen Vertretern aus den Hauptstädten anderer Euro-Länder, die mit Merkels Team zu tun hatten, war die deutsche Unterstützung für das Draghi-Programm das Resultat einer langsamen Verschiebung im Denken. Wenn Deutschlands ursprüngliche Vision für die Eurozone – keine Bailouts, keine gemeinsamen Schulden und, zumindest für einige, kein Griechenland – unrealistisch geworden war, wollte Deutschland wenigstens sicherstellen, dass der neue Plan einer zentralen Kontrolle unterlag.
Draghi als tatkräftiger Partner
Im Dezember erreichte Merkel die Zustimmung zum Fiskalpakt, der alle Euroländer zwingt, die strikten EU-Haushaltsregeln in ihre Verfassung aufzunehmen. Und zwei Wochen nach dem Streit in Los Cabos schloss sie ein Abkommen, das die Souveränität der Nationalstaaten so tiefgreifend verändern sollte, wie es seit der Euro-Einführung nicht mehr geschehen war: Aus gemeinsamen Eurozonen-Mitteln können künftig Europäische Banken gerettet werden, im Gegenzug soll die Aufsicht und die Auflösung der Institute aus nationaler in EU-Hand übergehen. Bei beiden Initiativen hatte sie mit Mario Draghi einen tatkräftigen Partner gefunden.
Deutsche Offizielle bestehen darauf, dass Merkel dieses Vorgehen nicht nur unterstützt habe, um den Weg frei zu machen für die EZB-Aktionen. Draghi hatte auch niemals den EU-Politikern explizit versprochen, dass er etwas unternehmen werde, wenn sie anfingen, sich gegenseitig zu helfen. „Haben Sie jemals von zwei Jesuiten gehört, die miteinander reden?“, sagte eine Person, die dabei war als Draghi sich für ein Vorgehen der Regierungen stark machte. „Sie müssen nicht darauf achten, was sie sagen, sondern darauf, was sie nicht sagen.“
Einige EZB-Beamte aus dem Umfeld Draghis, dass Merkels Unterstützung für dessen Anleihe-Programm „Outright Monetary Transactions“ (OMT) das Ergebnis einer vorsichtig orchestrierten Einflussnahme auf die Kanzlerin war.
„Den wirklichen Unterschied machte sein Verhältnis zu Merkel“, sagt ein früherer EZB-Beamter, der eng mit Merkel zusammengearbeitet hatte. „Er wusste, dass, wenn eines Tages etwas Schwieriges zu entscheiden war, sie ihm vertrauen musste.“ Hohe Beamte, die beiden Chefs nahestehen, bestätigen, dass Draghi eine größere Bereitschaft zeigte, sich auf die politischen Führer einzulassen als sein Vorgänger Jean-Claude Trichet, bei dem es wahrscheinlicher war, dass er seine Überlegungen nur mit den EZB-Kollegen teilte.
„Es gab keinen Deal“
Ohne die Unabhängigkeit der EZB zu gefährden, habe Draghi informell mit Merkel kooperiert, habe ausgelotet was machbar wäre, während Trichet offizielle Runden, EU-Gipfel etwa, bevorzugt habe. Aber Andere beharren darauf, dass allein Draghis Charme-Offensive Merkels Zustimmung nicht erklären kann. Selbst Draghi-Kritiker innerhalb der deutschen Regierung winken ab, wenn ein „Deal“ zwischen den beiden Chefs zur Sprache kommt. „Es gab keinen Deal“, sagt einer, „wir haben nichts im Gegenzug bekommen.“
Stattdessen, so mehrere Beamte, zeigt Merkels Bereitschaft die OMT zu akzeptieren, wie groß die Krise in diesem Sommer geworden war. Noch entscheidender: Es war die letzte Bewegung in einem Zwei-Schritt-Tanz zwischen politischen Führern und Zentralbankern, der immer wieder ausschlaggebend gewesen sei an jedem Wendepunkt der Krise.
Seit die Krise begonnen hatte, konnte die EZB nur zurückhaltend vorgehen, weil sie politisch von Deutschland zurückgehalten wurde. Montis Idee eines Anleihe-Kauf-Programms der EZB wurde in Paris und Washington schon lange als Weg aus der Krise gesehen. Wenn die EZB sich zu einem unbegrenzten Programm verpflichten würde, könnte kein Anleihehändler den Kampf mit den unendlichen Geldreserven aufnehmen. Panische Notverkäufe wären über Nacht Geschichte, argumentierten die Befürworter.
Aber viele in Berlin hielten so ein EZB-Vorgehen für nicht angemessen. Anleihen aus der Eurozone zu kaufen, hieß letztlich den Regierungen frisch gedrucktes Geld zu leihen, eine Praxis, die als „monetary financing“ bekannt ist. Das schob nicht nur den Tag des Schwurs für all jene Minister hinaus, die ihre Haushalte ausgleichen sollten, es könnte auch die Inflation anheizen.
Trichet hatte den Euro zweimal vor dem Abgrund gerettet: Als er zustimmte griechische Regierungsanleihen zu kaufen am Beginn der Krise im Mai 2010 und als er den Anleihenkauf auf Italien und Spanien im turbulenten Sommer 2011 ausweitete. Aber seine Pläne wurden schon damals als nicht ausreichend betrachtet. „Sie kauften den Regierungen Zeit“, sagte Lorenzo Bini Smaghi, Mitglied des EZB-Rates unter Trichet. „Sie waren nichts, um den Euro zu retten.“
Zartbesaitete Zentralbanker, hartgesottene Politprofis
Als Asmussen als Deutschlands Nominierung für den EZB-Rat vorgestellt wurde, bemerkten die Franzosen ihrerseits, dass sie einen Kandidaten brauchten, der Draghi jene Unterstützung aus Deutschland verschaffen konnte, die er brauchte, um aggressiver vorzugehen. Sie entschieden sich für Benoit Coeuré, einen Ökonomen aus Asmussens Generation und mit der gleichen politischen Ausrichtung, der den Deutschen gut kannte.
Wie Draghi, der den größten Teil seiner Beamtenzeit dem italienischen Finanzministerium vorstand, bevor er zu Italiens Zentralbank wechselte, waren auch Asmussen und Coeuré keine klassischen Notenbanker. Beide erarbeiteten sich ihren Ruf in ihren jeweiligen Finanzministerien, wo sie sich an die etwas raueren Sitten der Politik gewöhnten. In Frankfurt schlug man nun andere Saiten an.
„Zentralbanker sind sehr sensibel. Wenn nur ein halber Satz in der Zeitung kritisch ist, sind sie gleich komplett beleidigt“, sagt ein Beamter, der alle drei Männer gut kennt. „Wenn sie aus dem Finanzministerium kommen, haben sie das jeden Tag.... [Alle drei waren] viel mehr öffentlichen Druck gewöhnt und ein schmutzigeres Spiel.“
Die zwei Pragmatiker bildeten den Kern von Draghis neuem Anti-Krisen-Team. Sie bauten Brücken nach Paris und nach Berlin wie es keinem ihrer Vorgänger gelungen war.
Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen
Durch den Tumult von zwei Wahlen in Griechenland, die beinahe zum „Grexit“ führten und durch neue Befürchtungen für Spaniens Banken schlich die Angst im Mai zurück auf den Anleihemarkt. Bankia – das Bankhaus, das aus mehreren angeschlagenen spanischen Sparkassen entstanden war, die durch die Immobilienkrise in die Knie gezwungen worden waren – brach selbst zusammen und wurde teilverstaatlicht. Nun machte man sich um alle europäischen Banken Sorgen.
Draghi wusste, dass die EZB mehr unternehmen musste. Anfang Juni habe er begonnen mit einem kleinen Kreis enger Vertrauter, darunter Asmussen und Coueré, ein neues Anti-Krisen-Programm zu diskutieren, sagen Offizielle. Von Montis Plan hatten EZB-Mitarbeiter erfahren bevor er es in Los Cabos präsentiert hatte, aber sie hielten ihn für unrealistisch.
Als sie ihre eigene Blaupause entwarfen, wussten die Zentralbanker in Frankfurt, dass ein neues Anleihe-Kauf-Programm Asmussen politische Schwierigkeiten bereiten werde. Zwar teilte Asmussen selbst die Weltsicht von Weber und Stark, aber er glaubte auch, dass eine besonders große Krise besondere Maßnahmen verlange. „Manche versuchen jeden Tag, sich über gewisse Grundprinzipien hinwegzusetzen. Dagegen müssen sie sich 99 Prozent [der Zeit] wehren und sagen: 'Das hier ist keine besondere Situation'“, sagte Asmussen. „Es gibt Friedenszeiten und es gibt Kriegszeiten. In Friedenszeiten stehe ich auf der Seite der Bundesbank aber die Situation war eine andere.“
Es wurde immer deutlicher: Kriegszeiten brachen an. Unternehmen stellten Notfall-Pläne für den Fall eines Zusammenbruchs der Eurozone auf. Banken hielten Bargeld in abgelegenen Filialen vor, eine teure Angelegenheit, die sie aber schützen würde, wenn der Euro zerbräche. Die Kreditkosten von Italien und Spanien machten einen Satz nach oben.
Draghis heilsame Worte
In der EZB wurden Diskussionen, wie die Unruhen an den Märkten, gestoppt werden könnten, immer intensiver. Aber selbst jene, die Draghi nahestanden, waren überrascht als er Ende Juli sagte, dass die EZB „alles Notwendige“ unternehmen werde, um einen Zusammenbruch des Euros zu verhindern. Seine Worte beruhigten die Märkte sofort. Jetzt mussten die EZB-Leute ein Vorgehen entwickeln, um sie auch mit Leben zu füllen, ein Vorgehen, das die Prüfung dort bestehen würde, wo sie am schwierigsten ist: in Deutschland.
In Frankfurt bearbeiteten Draghis Gefolgsleute ohne Unterlass die Gegner des Plans. Sie überarbeiteten einzelne Verordnungen, um die konservativeren Mitglieder des EZB-Rates zu überzeugen, darunter Asmussen und die Chefs der holländischen und finnischen Nationalbank. Als ihnen das gelungen war, war Jens Weidmann, der Chef der Bundesbank isoliert.
Nun wusste Merkel mit Sicherheit, dass es viel zu gefährlich wäre, den Euro zerbrechen zu lassen. Um sie zu überzeugen, musste man ihr das geben, was sie schon die ganze Zeit verlangt hatte: Im Austausch für Hilfen mussten sich die strauchelnden Euro-Staaten zu einer Reformpolitik verpflichten. Diese „Konditionalität“ musste gründlich ausformuliert sein und rechtlich bindend.
Als Draghi im September die finale Version seines Planes veröffentlichte, hatte sich das politische Klima in Berlin verändert. Als sie sich beim Thema „Bankenunion“ durchsetzen konnte, gab Merkel Draghis Plan öffentlich ihren Segen. Einen Tag nachdem Draghi den Plan veröffentlicht hatte, hob sie hervor, wie wichtig Wirtschaftsreformen seien. „Konditionalität ist ein sehr wichtiger Punkt“, sagte sie. „Kontrolle und Hilfe... gehen Hand in Hand.“
weit entfernt von völliger Genesung
An diesem Tag schlossen italienische 10-Jahres-Anleihen bei einem Zinssatz von unter 5.1 Prozent. Das war seit fünf Monaten nicht mehr vorgekommen. Und zum ersten Mal seit vier Monaten fielen spanische Anleihen unter die Marke von sechs Prozent. Solche hohen Niveaus sollten nie wieder erreicht werden.
Die europäische Staatsschuldenkrise war vorbei.
Zwei Jahre später wird deutlich, dass die hektischen, improvisierten Aktionen des letzten Krisen-Jahres den Euro gerettet haben. Aber die Eurozone ist noch weit entfernt von völliger Genesung. Die Schuldenstände in Europas Süden sind extrem. Die Arbeitslosigkeitsraten bleiben auf historischen Höchstständen - das war ein Nebeneffekt der bitteren Medizin, die die Krisenbekämpfer verabreichten. Anti-EU-Parteien haben davon bei den Europawahlen profitiert. Aber die 15 Jahre alte Währungsunion hat ihre größte Prüfung bestanden: in seiner dunkelsten Stunde haben ihre Führer getan, was getan werden musste, um sie zusammenzuhalten. Und keine war dafür wichtiger als Angela Merkel, aufgewachsen in Ostdeutschland, Kanzlerin eines vereinten Deutschlands, und, zum Teil dank der Krise, Europas mächtigste Regierungschefin.
„Ich habe Europa gewählt, und damit auch Griechenland“, sagte Merkel am Ende der Krise. „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“
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Teil 1: Als Merkel um den Euro weinte