Auf den ersten Blick wirkt der Entwurf für den Wohnkomplex, der da in Berlin Lichtenberg entstehen soll, reichlich unspektakulär: Ein heller, sechsstöckiger Neubau, 50 bis 60 Wohnungen, viele mit Balkon ausgestattet, davor ein Parkplatz. Nur das Erdgeschoss sieht anders aus als gewohnt. Wo sich bei ähnlichen Gebäuden nur die Eingangstür befindet, wächst eine Aldi-Filiale aus dem Wohnhaus heraus. Oben Wohnungen, unten Supermarkt: Berliner werden sich an dieses Konzept gewöhnen. Wie Aldi Nord Ende Januar bekannt gab, will der Discounter in den kommenden fünf bis sieben Jahren an der Spree rund 2000 Wohnungen errichten – stets in Kombination mit eigenen Supermarktfilialen.
„Mit den Leuchtturmprojekten wollen wir den Startschuss für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Stadt Berlin und insbesondere den Stadtbezirken setzen“, sagt Jörg Michalek, Geschäftsführer der Aldi Immobilienverwaltung. Der Essener Lebensmittelkonzern plant mindestens 30 Immobilienprojekte in der Hauptstadt. Die Mehrfamilienhäuser sollen an Standorten in der Innenstadt entstehen, wo sich bereits Aldi-Märkte befinden. Typisch für den Discounter: Er will die Wohnungen günstig vermieten.
„Mehrwert für ganz Berlin“
In den Berliner Stadtbezirken sei man von dem Vorhaben begeistert, sagt Michalek. Das mag ein reines Werbe-Statement sein. Begeisterung unter den Einheimischen wäre aber in der Tat nicht überraschend: Die bislang fast immer einstöckigen Supermärkte sind den Berlinern schon länger ein Dorn im Auge. Denn Wohnraum ist knapp an der Spree, und glaubt man den Prognosen des Berliner Senats, dürfte sich die Situation noch verschärfen.
Bis zum Jahr 2030 rechnet die Hauptstadt mit einem Zuwachs von 300.000 Menschen. Der Senat bezifferte den Bedarf an neuem Wohnraum jüngst auf 194.000 Wohnungen bis zum Jahr 2030 und kündigte an, den Wohnungsbau deutlich zu beschleunigen, um den Zuzug zu bewältigen. Zugleich zählte der Senat im Sommer vergangenen Jahres 330 Supermärkte im Berlin, die sich für eine mehrgeschossige Bebauung in Kombination mit Wohnungen eignen würden. Bis zu 36.000 Wohnungen könnten auf diesen Flächen entstehen, so die Experten. Im vergangenen Sommer beraumte der Senat eigens einen „Supermarktgipfel“ an, um die Lebensmittelindustrie dazu zu bewegen, ihre Verkaufsflächen besser zu nutzen.
Die Kombination aus Aldi-Filiale und Wohnraum sei ein „Mehrwert für ganz Berlin“, sagt Aldi-Immobilien-Chef Michalek. Aldi wäre jedoch nicht Aldi, wenn hinter dem Vorhaben nicht auch ein lukratives Geschäft stünde: „Grundstücke eingeschossig zu bebauen, ist für den Eigentümer im Prinzip verschenkter Raum“, sagt Michael Voigtländer, Immobilienexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Gerade in Berlin, wo Wohnraum knapp und die Nachfrage hoch ist, können Immobilienbesitzer attraktive Renditen erzielen, wenn sie in die Höhe bauen. Mit einem Einstieg in den Wohnungsbau verdient der Discounter also am Immobilienboom mit – und sichert sich zugleich Kundschaft: Wer über einem Discounter wohnt, kauft mit großer Wahrscheinlichkeit auch dort ein.
Auch Lidl schafft Wohnraum
Aldi Nord hat den Wohnungsbau nicht ganz aus freien Stücken für sich entdeckt. Vielmehr wird der Konzern auch notgedrungen zum Bauherren für Wohnungen. Im Zuge seines 5,2 Mrd. Euro teuren Modernisierungsprogramms ist er nämlich auf Baugenehmigungen durch die Berliner Bezirke angewiesen. Solche Genehmigungen sind angesichts des knappen Wohnraums in den Metropolen für Einzelhändler immer schwieriger zu bekommen. Die Berliner Koalitionsvereinbarung sieht außerdem eine sogenannte Nachverdichtung und hybride Nutzung von Gebäuden vor. Heißt: Damit der Senat neue Handelsflächen genehmigt, müssen die Unternehmen dazu beitragen, Wohnraum zu schaffen.
Aldi Nord ist nicht deshalb der einzige Discounter, der plötzlich Wohnungen baut. Der Konkurrent Lidl hat bereits insgesamt 30 Wohnungen auf mehrere Filialen im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg gesetzt. Sollte die Berliner Senatsverwaltung an ihren Bedingungen für die Genehmigung von Bauanträgen festhalten, dürften weitere Supermarktketten folgen. In anderen Städten deutet sich ein solcher Trend bereits an. So vermietet Aldi Süd seit rund eineinhalb Jahren 43 Wohnungen in Tübingen, die sich über oder neben Aldi-Filialen befinden. Die Tengelmann-Tochter TREI Real Estate betätigt sich seit mehreren Jahren als Vermieter für Studentenwohnungen. Und Lidl vermietet heute bereits 17 Wohnungen am Tegernsee.
Mit dem Bau von 2000 Wohnungen in einer einzigen Stadt gehen die Pläne von Aldi Nord allerdings weit über die Aktivitäten seiner Wettbewerber hinaus. Ob der Discounter in Berlin als Vermieter auftreten oder seine neuen Wohnungen verkaufen will, teilte das Unternehmen nicht mit.