Der Gegenstand des Streits liegt ganz friedlich da. Eine grüne Wiese im Tübinger Ortsteil Hirschau, über der Insekten summen, vorn und hinten eine Straße, links und rechts ein Haus. In einem davon wohnt Ortsvorsteher Ulrich Latus, er hat es selbst gebaut. Falls eines seiner beiden erwachsenen Kinder sich entschließen sollte, wieder in die Heimat zu ziehen, würde er ihnen auf das leere Grundstück gern ein eigenes Haus setzen.
Ein solider schwäbischer Plan. Doch jetzt ist ihm der Oberbürgermeister dazwischengegrätscht mit seiner wilden Idee. „A bissle a Hirnfurz vom Palmer, auf Neudeutsch“, sagt Ulrich Latus.
Der Grüne Boris Palmer, vor allem dank seiner kontroversen Wortmeldungen zu Flüchtlingen bundesweit bekannter, als man es vom Oberhaupt einer mittelgroßen Stadt erwarten würde, hat sich mal wieder etwas einfallen lassen. Sein Vorstoß zielt auf die große soziale Frage unserer Tage ab – das Wohnen – und könnte Politikern nach der Mietpreisbremse und dem Berliner Mietendeckel ein neues Instrument an die Hand geben.
Palmer zufolge gehört Tübingen zu den zehn teuersten Wohnungsmärkten der Republik . Das liege am wirtschaftlichen Erfolg der Stadt: Allein im vergangenen Jahrzehnt seien 12.000 sozialversicherungspflichtige Jobs hinzugekommen, was auf einen Zuzug von etwa 24.000 Neubürgern hinausläuft – doch nur für 8000 Menschen ist zusätzlicher Wohnraum entstanden. Das ist bei 90.000 Einwohnern zwar eine Menge, aber lange nicht genug. Um die Wohnungsnot zu lindern, greift Palmer nun zum ganz groben Besteck: Er will Hunderte Eigentümer baureifer Grundstücke zum Bauen zwingen.
Ulrich Latus – Schnurrbart, weißes Kurzarmhemd, ein stoischer Typ, der beim Reden die gefalteten Hände auf der Tischplatte ruhen lässt – will sich das nicht gefallen lassen. Die ganze Umgebung habe früher einmal zum Gelände des elterlichen Tischlereibetriebs gehört, sagt er. Das leere Grundstück hat er erst vor einem Jahr geerbt, die Eltern hatten es als Kapitalanlage gehalten. „Das ist ein schwäbischer Denkansatz. Man hätte es auch verjubeln können für Urlaub – hat man nicht gemacht.“
Latus’ Familie ist seit Generationen in Hirschau ansässig, er ist hier tief verwurzelt. Ungefragt erzählt er von den Habsburgern, die die Gegend einst regierten, von Napoleon, vom Weinbau. Einer wie er lässt sich nicht erzählen, was er mit seinem Land anstellen soll. „Ich mache es so, wie ich’s für richtig halte, nicht, wie der Herr Palmer es wünscht.“
Bei seinem Vorstoß beruft sich Palmer auf Paragraf 176 des Baugesetzbuchs , der es Gemeinden erlaubt, ein Baugebot auszusprechen. Widersetzt sich ein Eigentümer, sieht das Gesetz neben Vollstreckungsmaßnahmen wie Zwangsgeldern in letzter Konsequenz Enteignungen vor. Glaubt man einer Stellungnahme der Tübinger Grünen, ist es das erste Mal, dass der Paragraf so angewendet wird.
Im Grundgesetz steht: Das Eigentum wird gewährleistet. Aber auch: Eigentum verpflichtet. Und: Enteignungen sind zulässig, wenn sie dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Will Palmer austesten, was Vorrang hat?
Ein tiefer Einschnitt
„Mir ist bewusst, dass die Ankündigung eines Baugebots für Sie als Grundstückseigentümer einen tiefen Einschnitt in die Verfügungsfreiheit über Ihren Besitz darstellt“, schreibt er in einem Brief an die Betroffenen. Jedoch: „Einer relativ kleinen Zahl von Grundstückseigentümern, die es sich leisten können, auf Jahrzehnte ein Grundstück unbebaut vorzuhalten, steht eine weitaus größere Zahl von Familien gegenüber, die aktuell dringend ein Grundstück sucht und nicht findet.“ Fazit: „Ein solcher Widerspruch führt zu Spannungen in einem Gemeinwesen, den die Politik nicht ignorieren kann, sondern auflösen muss.“
Palmer schreckt die Aussicht auf Querelen nicht. „Den Streit mit Einzelnen halte ich locker aus“, sagt er. Er sitzt am Besprechungstisch in seinem Büro, einem schönen Eckzimmer im historischen Rathaus. Palmer spricht konzentriert und ohne Zögern. Er hat nur eine halbe Stunde Zeit, danach ist Ratssitzung.
Die Verwaltung habe zwar angefangen, Neubaugebiete in den Außenbereichen zu planen, erzählt er. Doch die Verfahren dauerten lange, auch mangele es an Stadtplanern. „Wir durchlaufen jetzt ein Tal der Tränen, vielleicht fünf Jahre, vielleicht sieben, in denen wir das neue Angebot nicht schnell genug auf den Markt bringen, aber die Nachfrage da ist. Das muss ich irgendwie ausgleichen.“
550 baureife Grundstücke gebe es in Tübingen – damit ist gemeint, dass sie erschlossen und mit Baurecht belegt sind. Bei etwa 250 davon sind Palmers Schätzung zufolge die Voraussetzungen nicht gegeben, um ein Baugebot durchzusetzen – deren Eigentümer schreibt er gar nicht erst an. Ihm geht es um die restlichen 300 Grundstücke. Von deren Eignern hätten bis August 80 Prozent auf den Brief reagiert, sagt der Oberbürgermeister. „Die Antworten fallen sehr verschieden aus. Die Mehrheit wehrt sich schon, bauen zu müssen.“
Immerhin könne er sich inzwischen ein Bild machen, sagt Palmer. Manche Eigentümer hätten angegeben, dass sie ihr Grundstück selbst als Garten nutzen: „Wahrscheinlich besser, das nicht mit einem Zwangsbau zu belegen.“ Erben hätten ihm berichtet, dass sie nicht mit dem Bauen beginnen könnten, weil Grundbuchamt und Amtsgericht bei der Testamentsvollstreckung nicht aus dem Knick kämen. „Da ist ein Anruf beim Amtsgerichtspräsidenten durchaus geeignet, das Verfahren in einer Woche zu erledigen. Das habe ich jetzt ein paarmal gemacht.“ Wieder andere ließen das Land allerdings einfach brachliegen – als Anlage mit kontinuierlicher Wertsteigerung, von der sie sich nicht trennen wollen, gerade in Nullzinsen-Zeiten. „Da würde ich sagen: Tut mir leid, Ihr Motiv ist verständlich, aber halt nicht akzeptabel. Da setze ich dann auch ein Baugebot durch.“
Was nun folgt, wirkt ein wenig widersprüchlich. Um wirklich eine Bebauung zu garantieren, müsste die Stadt bei anhaltendem Widerstand die Besitzer enteignen – doch das beabsichtige er nicht, betont Palmer. „Enteignen will ich gar nicht. Aber die Vollstreckungsmaßnahmen, die Zwangsgelder, die würden wir natürlich ansetzen. Ist ja logisch.“ Er zieht sein Smartphone aus der Tasche, googelt schnell nach. „Steht ganz klar im Gesetz, dass bei Nichtbefolgung eines Baugebots bis zu 50.000 Euro fällig werden.“
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Man geht nicht völlig erleuchtet aus diesem Gespräch, kann aber zumindest festhalten, dass der Oberbürgermeister maximalen Druck aufbauen will. Ob er tatsächlich gegen Hunderte seiner Bürger Zwangsmaßnahmen durchfechten würde, sei dahingestellt. Denn der Paragraf 176 ist ein äußerst kompliziertes Konstrukt. Das wird deutlich bei einem Mittagessen mit Helmut Failenschmid und Ottmar Wernicke vom Eigentümerverband Haus & Grund Württemberg. Über einem Wiener Schnitzel legen der Vizevorsitzende und der Geschäftsführer dar, wie sie die Rechtslage sehen. „Die Stadt hat schlechte Karten“, sagt Failenschmid. „Palmer fehlt es einfach an der nötigen rechtsstaatlichen Musikalität.“
Die beiden konjugieren die gesetzlich vorgesehenen Schritte durch: Erörterung, Anhörung, Nachweis der wirtschaftlichen Zumutbarkeit, Zwangsgeld, Enteignung – jeder Einzelschritt gerichtlich anfechtbar über lange Instanzenwege. „Beim Verwaltungsgericht Mannheim brauchen Sie bis zum Ende fünf bis sechs Jahre“, sagt Wernicke – pro Fall. Den Paragrafen 176 bis zum bitteren Ende durchzuziehen dürfte komplizierter sein als jeder Hausbau.
Alles nur ein Testballon?
Genau hier wittern die beiden Verbandsleute Palmers Strategie: Wäre es nicht hilfreich, öffentlich zu demonstrieren, was für ein stumpfes Schwert bisher der Paragraf 176 ist – um ihn dann mit einer Gesetzesnovelle zu schärfen und das Verfahren zu vereinfachen? Das könnte die Grünen in der bundespolitisch wichtigen Wohnungsdebatte in die Offensive bringen.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann habe Palmer Unterstützung signalisiert, sagt Wernicke. „Ich vermute eine längerfristige Strategie dahinter, weil alles so schön abgestimmt ist und bei den Grünen niemand widerspricht.“ Tatsächlich hat der grüne Tübinger Bundestagsabgeordnete Christian Kühn beim Wissenschaftlichen Dienst des Parlaments bereits ein Gutachten anfertigen lassen, das sich mit dem Paragrafen 176 beschäftigt. Ein Vorstoß, um das Thema bundesweit auf die Agenda zu bringen?
Palmer treibe jede Woche eine neue Sau durchs Dorf, sagt Failenschmid. „Man muss sich nicht auf jede draufsetzen. Aber hier geht es um Grundrechte. Da muss man den Anfängen wehren.“ Ganz davon abgesehen sei das Vorgehen menschlich nicht in Ordnung. „Wie sehr sich die Leute davon beeindrucken lassen, ist jetzt die Frage“, sagt Failenschmid. „Das sind Privateigentümer, im Schnitt über 70.“
Eva Sperber, 72 Jahre alt, führt durch das Paradies, aus dem sie vertrieben zu werden fürchtet. Die Bauhaus-Villa von 1932, in der sie seit 50 Jahren lebt, steht in einem verwunschenen, überwucherten Garten. Auf einem DIN-A4-Blatt hat Sperber in Blockschrift die Pflanzen und Tiere aufgelistet, denen ihr Grundstück ein Zuhause bietet: Konifere, Atlas-Zeder, Marder, Hirschkäfer, Grünfink … Allein 26 Bäume hat sie gezählt.
Sperber entstammt einer alten Tübinger Familie, die im Buchhandel zu Wohlstand gekommen ist. Doch das ist lange her. Das Geschäftshaus in der Altstadt musste sie verkaufen, alle anderen Grundstücke sind auch weg. Die Rente, die sie als ehemalige Fotojournalistin bekommt, beträgt 450 Euro. Sie braucht den Rest des Familienvermögens auf. „Und jetzt kommt der Palmer.“
Auch sie hat Post vom Oberbürgermeister bekommen. „Eines schönen Morgens wachen Sie auf, denken nichts Böses, gehen an Ihren Briefkasten … Was soll das? Ich habe doch nichts gemacht, niemanden umgebracht – und jetzt nehmen die mir mein Haus weg.“ Letzteres hat zwar niemand vor, aber wer Sperber zuhört, begreift, wie sehr Palmers Initiative hier manche in Angst versetzt hat.
Auf den Brief hat Sperber nicht reagiert – aus Sorge, dass dann ein offizielles Verwaltungsverfahren angelegt werden könnte. Der Hinweis, dass es ihr eher nützen als schaden könnte, sich zu äußern, überzeugt sie nicht. Rechtsbeistand sei teuer, sagt sie, und Palmer ein sturer Kopf, der sie ruinieren könne.
„Eins ist sicher“, sagt Sperber. „Mich kriegen die nur mit den Füßen zuerst aus diesem Haus.“
Der Beitrag ist erschienen im Capital-Soderheft „Der große Traum vom Haus“ . Bestellen können Sie es im Capital Shop