Bauern und Investoren sind sich ähnlicher, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Beide wollen etwas ernten, für beide spielt dabei die Jahreszeit eine Rolle, und sowohl Landwirte als auch Anleger haben zahlreiche Regeln ersonnen, um diesem Umstand Rechnung zu tragen. „Ein nasser Mai schafft Milch herbei“, sagt der Milchbauer. Beim Börsenprofi klingt das so: „Sell in may and go away“. Oder auch: „As goes january, so goes the year“ – wohingegen der Landwirt weiß: „Januar kalt und rau nutzt dem Getreidebau.“
Ähnlich wie Bauernregeln beruhen auch Aussagen zur Saisonalität der Börsen meist auf Beobachtung und Erfahrung, sind also nicht komplett aus der Luft gegriffen. So soll etwa die Mai-Verkaufsempfehlung darauf zurückgehen, dass sich die Oberschicht einst im Spätfrühling in die Sommerfrische verabschiedete (und dort weder Computer noch Internet zur Verfügung hatte), sodass an den Börsen vorübergehend Flaute herrschte. Anleger sollten vermeintlich klaren saisonalen Mustern allerdings, ebenso wie Bauernregeln, nicht blindlings folgen. Denn das kann ins Auge gehen.
Das wohl bekannteste saisonale Börsenmuster ist die Jahresendrally. Zum Jahresende hin, so die Theorie, legen die Aktienkurse noch einmal kräftig zu. Tatsächlich ist dieser Effekt an vielen Märkten und in vielen Jahren zu beobachten. Schaut man sich etwa die Entwicklung des Dax in den vergangene Jahrzehnten an, fällt auf, dass der deutsche Leitindex in den jeweils letzten drei Monaten des Jahres überproportional oft gestiegen ist. Börsenexperten sehen dafür mehrere mögliche Gründe: Viele Fondsmanager wollen im vierten Quartal noch rasch ihr Portfolio aufhübschen und kaufen die Gewinneraktien des Jahres zu. Denkbar ist auch, dass Anleger in vorweihnachtlicher Shopping-Laune verstärkt auf Einkaufstour gehen.
Viele Aktienindizes verzeichnen zudem statistisch einen starken Jahresauftakt. Börsenprofis sprechen vom „Januar-Effekt“. Dass die Renditen im ersten Monat des Jahres oft überdurchschnittlich hoch ausfallen, hat vermutlich steuerliche Gründe: Viele Anleger verkaufen gegen Jahresende Aktien, die schlecht gelaufen sind, um Verluste zu realisieren und so Steuern zu sparen. Im Januar greifen sie dann an den Börsen wieder zu. So lautet zumindest die gängigste Erklärung für diese Kapitalmarktanomalie. Möglich ist auch, dass institutionelle Investoren die Kurse zum Jahresstart in die Höhe treiben. Weil sie im Januar noch das Risikobudget des gesamten Jahres zur Verfügung haben, können sie dann besonders beherzt zugreifen.
Sollten Anleger ihre Aktienkäufe und -verkäufe also nach den Jahreszeiten ausrichten? Besser nicht: Saisonale Börsenmuster sind zwar in vielen Jahren zu beobachten, aber längst nicht in allen. Im Jahr 2018 etwa ging es für den Dax im vierten Quartal kräftig abwärts. Erst im Januar stiegen die Kurse wieder. Es gab also eher eine Jahresanfangs- als eine Jahresendrally, die mit dem „Januar-Effekt“ zusammenfiel. Wer im Sommer 2018 Aktien zugekauft hatte, in der Hoffnung auf steigende Kurse zum Jahresende, musste rund ein Jahr warten, bis die Kurse wieder auf Einstiegsniveau lagen.
Saisoneffekte an der Börse müssen nicht einmal komplett ausfallen, um Anlegern, die darauf spekulieren, Verluste zu bescheren. Es genügt schon, wenn sie zu einem anderen Zeitpunkt eintreten als gedacht. So lässt sich zwar in vielen Jahren eine Sommerflaute an den Börsen beobachten. Der stärkste Monat vor dem Sommerloch ist aber längst nicht immer der Mai. Manchmal ist es auch der April, der Juni oder sogar der Juli. Mit „sell in may“ sind Anleger also nicht immer gut beraten.
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