Beim Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums sind viele wichtige Menschen. Sie laufen umher, drängeln sich durch die Menge. Sogar Königinnen müssen hier ihre Namensschilder vor Scanner halten, damit sie in Veranstaltungssäle gelassen werden.
Nur bei einem ist das anders. Er läuft durch die Massen, umgeben von mehr als 30 Männern, die im Weg Stehende einfach zur Seite schieben. Und wenn er eine Rede hält, ist der größte Saal voll wie nie.
Wo Wolodymyr Selenskyj spricht, das wissen hier alle, ist Historisches zu erwarten. Betritt er die Bühne, dann zückt man das Handy und fotografiert. Und wenn er fertig vorgetragen hat, muss die Menge applaudieren, stehend natürlich. Zum ersten Mal ist Selenskyj persönlich anwesend beim Weltwirtschaftsforum in der Schweiz. Keine Videoansprachen mehr. Vielleicht auch, weil Videoschalten nicht mehr reichen.
Selenskyjs Situation sieht schlecht aus
Selenskyj hat immer noch eine Sonderrolle inne, das schon – aber seine Position ist längst nicht mehr dieselbe wie damals, nach dem 24. Februar 2022. So zynisch es klingen mag: Mit dem Konflikt zwischen Israel und der Hamas im Nahen Osten hat die Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine abgenommen. Mit der steigenden Zahl toter Ukrainer und der zahl-, aber eben nicht ausreichenden Unterstützung des Westens nimmt Selenskyjs Beliebtheit im In- und Ausland ab. Die nahende Wahl in den USA und die Aussicht auf einem möglichen US-Präsident Trump wiederum lassen Selenskyjs Chancen auf mehr Hilfsgelder und Rüstungsgüter sinken.
Deswegen steht er nun wieder hier. Noch ein Hilferuf. Noch einmal bitten, um Aufmerksamkeit und Unterstützung. Er steigt ein mit den Fragen, die er selbst wohl auch nicht mehr hören kann: Wann wird dieser Krieg enden? Ist nicht die Zeit für Verhandlungen mit Russland gekommen? Selenskyj weiß, dass sich diese Fragen immer lauter stellen. Aber er ist hier, um klarzumachen: Wenn ihr uns aufgebt, dann gebt ihr nicht nur die Ukraine auf.
„Putin wird sich nicht ändern. Wir müssen uns ändern“
Er erzählt von all den Ländern von Sudan bis Mali, in denen Wladimir Putin noch Krieg führt. Der russische Präsident sei der einzige Grund, warum in Syrien seit 13 Jahren Krieg herrsche, sagt er. Er beschreibt die Freiheit, die in der Ukraine verteidigt werde. Aber vor allem beschreibt Selenskyj die Gefahr, die für Europa entstehen könnte, wenn Putin seine Wünsche in die Tat umsetzt. Welches europäische Land sei denn ernsthaft in der Lage, sich gegenüber Russland zu verteidigen, wenn Putins Großmachtfantasien mit der Ukraine nicht erfüllt sein sollten, fragt Selenskyj – und mahnt dann: „Er wird sich nicht ändern. Wir müssen uns ändern.“
Was er damit meint? Dieses Jahr müsse man entscheidungsfreudig sein, wenn die Ukraine den Krieg gewinnen soll. Wegen der Sorge vor einer Eskalation habe sein Land im Kampf gegen Russland Zeit verloren – und Menschenleben. „Jede Reduktion von Hilfen verlängert den Krieg, jede Unterstützung verkürzt ihn.“
Am Tag zuvor hat der ukrainische Präsident in Bern bereits die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd getroffen und zusammen mit ihr verkündet, dass in der Schweiz bald ein Friedensgipfel für die Ukraine stattfinden solle. Er hat am Morgen mit 17 Unternehmenschefs über den Wiederaufbau und Investitionen in die Ukraine gesprochen, er traf den US-Außenminister Anthony Blinken ebenso wie den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Selenskyj hat in Davos einen großen Auftritt, das steht außer Frage. Ob die Unterstützung, die auf diesen Auftritt folgt, ebenso groß ausfallen wird, ist ungewiss.