Der saudi-arabische Ölkonzern hat seine Börsenpläne offengelegt: Die Erstnotiz ist für den 5. Dezember geplant. 1,5 Prozent der Anteile des Unternehmens sollen die Börse gebracht werden. Mindestens 24 Mrd. Dollar will Saudi Aramco damit erlösen, das entspricht einem Börsenwert von 1,7 Billionen Dollar. Mit seinem IPO macht der Ölriese dem chinesischen Tech-Konzern Alibaba Konkurrenz, der bisher den den größten Börsengang aller Zeiten hinlegte. Die Saudis haben sich lange schwer getan, bereits 2016 berichtete Capital über die Pläne.
Als Anfang Januar 2016 die Nachricht um die Welt geht, dass Saudi Aramco verkauft werden könnte, der größte Erdölkonzern der Welt, löst die Meldung in einem Arbeitszimmer an der Westküste der USA großes Kopfschütteln aus. Frank Jungers lebt in Clackamas, einem kleinen Vorort von Portland im Bundesstaat Oregon, in seinem Arbeitszimmer stapeln sich die Bücher bis unter die Decke, und über Aramcos möglichen Börsengang sagt er: „Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Die Risiken wären gewaltig. Und bringen würde es nichts.“
Für den fast 90-jährigen Amerikaner wäre ein Verkauf von Saudi Aramco, als würde seinem eigenen Lebenslauf eine ironische Fußnote hinzugefügt. Jungers ist ein freundlicher alter Mann, der oft scheppernd lacht, wenn er über die Verrücktheiten des Ölgeschäfts spricht. Aber wenn es um Aramco geht, dieses arabisch-amerikanische Amalgam, dann versteht er keinen Spaß. Mehr als 30 Jahre hat Jungers für den Konzern gearbeitet, der ursprünglich Arabian American Oil Company hieß. Fünf Jahre lang war Jungers CEO. In dieser Zeit erlebte er, wie die ursprünglichen Eigner, vier amerikanische Ölkonzerne, Schritt für Schritt herausgekauft wurden. Bis schließlich im Jahr 1980 der saudische Staat 100 Prozent der Anteile übernahm. Jungers kämpfte dafür, dass trotzdem weiter Profis und keine branchenfernen Bürokraten die Geschicke des Konzerns leiteten. Und er hatte Erfolg. Aramco wurde zum wichtigsten Player im Geschäft mit der Energie, zum entscheidenden Faktor, wenn es eng wurde mit dem Öl. Und jetzt soll dieser Gigant verkauft werden?
Saudi Aramco ist ein Konzern der Superlative. Das Unternehmen sitzt auf über 260 Milliarden Barrel Öl (ein Barrel = 159 Liter), den größten Reserven der Welt, und ist auch der mit Abstand wichtigste Produzent. Es betreibt über 100 Felder, darunter das größte Onshore- und das größte Offshoreölfeld der Erde. Das Einzige, was klein ist bei Aramco, sind die Förderkosten: Der Konzern profitiert davon, dass sich das Öl im Osten der Arabischen Halbinsel leichter aus dem Boden holen lässt als irgendwo sonst auf der Welt.
Im Vergleich zu Aramco erscheinen Energieriesen wie Total oder Gazprom wie Mittelständler. Die Analysten überbieten sich gegenseitig, was die Vermutungen über einen möglichen Marktwert angeht. Die Zahlen reichen von 1000 Mrd. Dollar bis 10.000 Mrd. Dollar. Selbst die konservativste Schätzung kommt immer noch auf den doppelten Wert von Apple. Auch deshalb elektrisiert die vage gehaltene Meldung auf der Website des Unternehmens die Märkte. „Wir beschäftigen uns mit mehreren Optionen für eine breite öffentliche Beteiligung an unseren Aktiva“, heißt es da. Eine Notierung an den Kapitalmärkten komme sowohl für „einen angemessenen Anteil an den Aktien des Unternehmens“ als auch für Vertriebstöchter infrage.
Der Grund für die plötzliche Offenheit: Saudi Aramco hat ein Problem. Seit Sommer 2014 fällt der Weltmarktpreis für Öl. Stetig. Von einem Niveau um die 100 Dollar auf mittlerweile etwa 30 Dollar pro Barrel der Referenzsorte WTI. Und auf ein Ende des Verfalls will an den Märkten kaum jemand mehr sein Geld setzen. Der saudische Staat aber, dessen Einnahmen überwiegend von Saudi Aramco stammen, hat in seiner Haushaltsplanung mit einem Niveau von knapp 95 Dollar kalkuliert. Und jetzt wird es eng. „Es galt immer als wahrscheinlich, dass Produzenten wie Algerien oder Venezuela Schwierigkeiten kriegen“, sagt Christof Rühl, als früherer Chefökonom von BP einer der besten Kenner der Branche. „Kaum jemand hat erwartet, dass die Saudis selbst ins Schlingern kommen. Doch genau das geschieht jetzt.“ Noch sind die Währungsreserven von über 600 Mrd. Dollar ein fettes Polster. Allerdings haben die Saudis im vergangenen Jahr pro Monat etwa 10 Mrd. Dollar ihrer Reserven verbraucht, und dieser Schmelzvorgang setzt sich bisher ungehindert fort. Weil die Währung des Landes fix an den Dollar gekoppelt ist, bedeutet jeder Preisrückgang beim Öl sofort eins zu eins weniger Geld in der Staatskasse. Schon laufen sich die Spekulanten warm, die gegen den Riyal wetten.
Lastwagen voll Gold
Für Rühl, der heute für den Staatsfonds der Vereinigten Arabischen Emirate arbeitet, liegt das Problem zudem in der unverminderten Abhängigkeit vom Öl: „Die Saudis haben erst sehr spät damit begonnen, zu diversifizieren und sich auf andere Zeiten vorzubereiten. Und wenn man so etwas unter Druck machen muss, wird es nicht unbedingt leichter.“ Ein Verkauf von Aramco immerhin würde zumindest kurzfristig Geld in die Kasse spülen, viel Geld. Aber dazu müsste die Regierung einen Teil ihrer Kontrolle über das Unternehmen abgeben. Es wäre das Ende einer Ära.
Als Frank Jungers 1947 als 22-jähriger College-Absolvent bei Aramco anfängt, besteht der spätere Ölriese noch aus dem Zusammenschluss von vier amerikanischen Unternehmen, die mit saudischer Lizenz auf der Halbinsel nach Öl bohren, unter anderem ist Texaco mit dabei. „Wir mussten gemeinsam groß werden, wir mussten ein Land aufbauen“, sagt Jungers. „Die Saudis hatten ja keinerlei Infrastruktur, es gab nichts, und sie wussten das.“ Als die US-Ingenieure in den Osten der Arabischen Halbinsel kommen, finden sie in jeder Hinsicht eine Wüste vor. Es gibt keine Straßen, keine Krankenhäuser, keine Telefone, ja oft nicht einmal etwas Anständiges zu essen. „Wenn die Saudis morgens zur Arbeit kamen, brachten sie ein paar Datteln und etwas Reis mit, nichts, was für einen harten Arbeitstag reichen würde“, sagt Jungers. „Wir mussten gesunde Lebensmittel herbeischaffen.“
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Zunächst lässt sich das Königreich einfach die Lizenzgebühren für die Ölförderung ausbezahlen – und zwar in Gold, weil es anderen Zahlungsmitteln misstraut. So schafft Aramco von überall Goldmünzen herbei, die per Truck durch die Wüste nach Riad gebracht werden. Anfang der 50er-Jahre aber wollen es auch die Saudis nicht mehr einfach bei Lizenzgebühren belassen und handeln eine 50-prozentige Gewinnbeteiligung für den Staat aus. Der Konzern entwickelt sich rasch zu dem, was er bis heute ist: der Goldesel der saudischen Monarchie.
Jungers selbst fliegt das erste Mal in einer firmeneigenen Douglas DC-4 nach Arabien, die den Namen „Flying Camel“ trägt. Den Nahen Osten kennt der junge Ingenieur bis dato nur aus seiner Briefmarkensammlung. In Ras Tanura, heute der größte Ölhafen der Welt, lernt Jungers seine ersten arabischen Sätze. Die Frage: „Wo ist der Hammer?“ Die Antwort: „Unter dem Auto.“ Er gewöhnt sich daran, dass saudische Angestellte fünf Betpausen am Tag brauchen, und organisiert den Arbeitsalltag so, dass die Produktion weiterlaufen kann. „Uns war sehr wichtig, dass Aramco nicht wie ein koloniales Unternehmen vorging“, sagt Jungers heute. „Es ging mir von Anfang an darum, die Menschen vor Ort einzubinden.“ Schon während seines Aufstiegs an die Unternehmensspitze geht er im Königshaus ein und aus. Er lernt, dass man bei den Saudis am besten schweigt, wenn es nichts zu sagen gibt, statt den in Amerika üblichen Small Talk zu pflegen. Und er wird für die Regierung bald zu einer Art Mädchen für alles. Als König Faisal im März 1975 von einem angeblich geistig verwirrten Neffen angeschossen wird, ruft der Protokollchef als Erstes Jungers an: ob der ein Ärzteteam herbeischaffen könne? Und Jungers hilft. Der Chef von Aramcos medizinischer Abteilung rast mit seinen Leuten innerhalb von zwei Stunden in die saudische Hauptstadt. Allerdings kommen die Helfer zu spät: Die Verwundung Faisals ist tödlich.
Je größer das Unternehmen wird, desto wichtiger wird auch seine Rolle für die Politik. Spätestens mit der OPEC-Gründung 1960 wird Öl zu einem Schmiermittel für die ganz großen geostrategischen Konflikte. Und natürlich sieht das Königreich in Aramco auch ein Mittel, seine politischen Interessen zu verfolgen. Als Saudi-Arabien den Westen Anfang der 70er-Jahre dazu bringen will, sich von Israel abzuwenden, setzt es ein Ölembargo als Waffe ein – und die halb amerikanische Aramco muss dafür sorgen, dass es umgesetzt wird. Jungers beschreibt in einem 2013 erschienenen Buch, wie der damalige König Faisal ihn persönlich dazu drängt, auf die amerikanische Öffentlichkeit einzuwirken: „Er zupfte dabei andauernd an seinem Kamelhaarumhang, wie er es immer tat, wenn er sich aufregte.“ Und Jungers gehorcht. Der Aramco-Chef begibt sich auf eine ausgedehnte US-Tour, um anderen Unternehmensführern die „Gefühle der Araber“ nahezubringen.
Heute rechtfertigt sich Jungers, seine politische Mission habe dem Interesse des Unternehmens gegolten. „In den Nachbarstaaten wurde von Verstaatlichung der Ölindustrie gesprochen“, sagt er. „Ich musste die Saudis davon überzeugen, dass das keine gute Idee wäre.“ Zwar geht Aramco später trotzdem in Staatsbesitz über – doch die Eigner werden entschädigt, und es bleibt immer ein amerikanischer Einfluss. Bis heute arbeiten viele US-Expats für das Unternehmen, etwa die Hälfte der Mitarbeiter kommt aus dem Ausland.
Nicht nur als Arm der Außenpolitik spielt Aramco eine Rolle, sondern auch für die Entwicklung der saudischen Gesellschaft. Der Ölkonzern ist Herr über ein Krankenhausnetz, in dem Zehntausende von Menschen versorgt werden können. Ihm gehören Werften, Forschungseinrichtungen und eine komplette Universität. Wer es im Konzern zu etwas gebracht hat, der kann auch in der saudischen Politik Karriere machen. Ein prominenter Fall ist Ali al-Naimi, einst der erste gebürtige Saudi an der Spitze von Aramco, der heute Erdölminister Saudi-Arabiens ist – und einer der mächtigsten Menschen im Energiegeschäft. „Al-Naimi war ein geborener Anführer“, sagt Jungers heute über seinen Nachfolger. „Das konnte man von Anfang an sehen.“
Schnaps brennen
Trotz der engen Bindung zur Politik gilt Saudi Aramco heute als unabhängiger als viele andere staatliche Energiekonzerne. „Die saudische Regierung lässt Aramco weitgehend freie Hand“, sagt Jungers. „Natürlich sind sie die Eigentümer und dürfen mitreden, aber ins operative Geschäft mischen sie sich kaum ein.“ Die Ansicht des Ex-CEOs wird von unabhängigen Fachleuten geteilt. „Theoretisch kontrolliert das Öl-Ministerium das Unternehmen, tatsächlich aber ist es andersherum“, sagt Giacomo Luciani, Experte für Energiepolitik am Graduate Institute Geneva. „Die saudische Regierung ist abhängig davon, dass das Unternehmen gut funktioniert und nicht korrupt ist.“ Seit Langem werde Aramco professionell gemanagt und ähnele in seiner Unternehmenskultur amerikanischen Konzernen. Fast das gesamte Führungspersonal hat Abschlüsse an US-Universitäten erworben. Die Hierarchien sind flach, es herrscht ein offener Umgang zwischen den Mitarbeitern. Neue Talente werden an den Universitäten entdeckt und Jobs nach Fähigkeit und nicht wegen eines guten Familiennamens vergeben.
Worüber in Riad weniger offen gesprochen wird: Beim Global Player Saudi Aramco gelten intern auch andere Regeln als in der von rigiden islamischen Moralvorstellungen beherrschten saudischen Gesellschaft. Die Mitarbeiter verstehen sich als „Aramcons“ – es ist eine Art eigene Nationalität, in der sich saudische und amerikanische Kultur vereinen. Auf dem Unternehmensgelände in Dhahran kann man westliche Frauen in Shorts joggen sehen und arabische Kolleginnen am Steuer von Autos. Viele der älteren Wohnhäuser haben einen Anbau, der als still room bekannt ist und meist nur einem Zweck dient: „Es ist ein offenes Geheimnis bei Aramco, dass viele Leute zu Hause Alkohol herstellen“, sagt einer, der bis 2013 im gehobenen Management des Konzerns arbeitete. „Sie dürfen ihn nur nicht verkaufen.“ Kleine Privatbrennereien mitten im alkoholfreien Scharia-Staat. In den neueren Gebäuden allerdings wird auf den still room verzichtet: Es gab einfach zu viele Unfälle.
Auch Ex-CEO Jungers sieht sich nach wie vor als Aramcon. Trotz seines Alters ist er in den vergangenen Jahren immer wieder nach Saudi-Arabien gereist und hat die früheren Kollegen besucht. Das Arabisch, das er einst gelernt hat, ist ein bisschen eingerostet, aber im Konzern kann eh jeder Englisch. Für ihn ist Aramco, dieses hybride Konstrukt zwischen Staatskonzern und effizient gemanagtem Vorzeigeunternehmen, ein Lebenswerk. Viel verbessern lässt sich da aus seiner Sicht nicht. Auch deshalb hält Jungers nichts von einem Börsengang: „Die Kontrolle über das Unternehmen würde verloren gehen. Und das kann niemand wirklich wollen.“
Der Beitrag ist in Capital 03/2016 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay