Christian Kirchner ist Frankfurt-Korrespondent von Capital. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Geldanlagethemen. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen
Wer sich auch nur gelegentlich mit den Finanzmärkten beschäftigt, der kennt das Phänomen: Man erinnert sich an markante Marktwendepunkte in der Vergangenheit, die man selbst irgendwie kommen gesehen hat. Weil einen während eines Smalltalks, eines Vortrags oder der Lektüre eines Zeitungsartikels das Gefühl beschleicht, dass etwas nicht stimmt. Dass die Stimmung entweder viel zu optimistisch ist gemessen an den Gefahren. Oder auch umgekehrt, dass sie viel zu ängstlich ist, obwohl der schlimmste Teil eines Einbruchs bereits hinter uns liegt.
Ich hatte in der jüngeren Vergangenheit drei solcher Erlebnisse.
Das erste war im März 2009. Ich besuchte einen Investmentbanker zu einem Hintergrundgespräch, über die Märkte, die Stimmung, die Deals und das große Ganze. Dummerweise hatte der Investmentbanker aber überhaupt nichts zu erzählen. Er war beschäftigungslos, weil die Märkte am Boden waren, kein Unternehmen wollte eine Anleihe begeben oder eine Kapitalerhöhung durchführen. Man sei jüngst beim Sportartikelhersteller Adidas gewesen, um ihn von möglichen Kapitalmaßnahmen zu überzeugen. Vergeblich. Also habe man stattdessen im örtlichen Museum einige Sportschuhe und Devotionalien besichtigt, was interessant gewesen sei.
Ich dachte mir: Nun, wenn hochbezahlte und dealgeile Banker aufgrund von Beschäftigungslosigkeit durch Sportschuhausstellungen spazieren und freimütig darüber plaudern, weil sie ohnehin nichts mehr zu tun oder verlieren haben, ist die Wende nach oben nicht weit. Und so war es dann auch. Unser Gespräch fand exakt am Marktwendepunkt der Post-Lehman-Ära statt.
Verklärung der Rückschau
Das zweite war im November 2011. Seinerzeit lauschte ich einer Podiumsdiskussion in Köln mit den prominentesten deutschen Aktienfondsmanagern. Die überboten sich auf der Bühne gegenseitig mit Horrorvisionen über die Lage an den Euro-Anleihenmärkten, die Folgen der Schuldenkrise für die Wirtschaft und damit auch Aktienmärkte, die Aussichtslosigkeit des Kampfes der Notenbanken. Da Fondsmanager ansonsten zu den notorischen (Zweck-) Optimisten zählen, dachte ich mir im Stillen: Wenn diese Granden da oben derart Trübsal blasen, geht es bestimmt bald wieder aufwärts. Und so kam es dann auch wenige Tage später.
Vermutlich kennen Sie auch solche Erlebnisse. Und natürlich spielen uns hier die Erinnerung und unser Denkvermögen einen Streich. Wir sammeln pro Tag Dutzende Eindrücke rund um die Stimmung in der Wirtschaft und an den Märkten. Jeden Tag sagen auch Dutzende Menschen einen Einbruch voraus oder einen weiteren Boom. Und nachdem etwas passiert ist, suchen wir Erklärungen dafür, fügen Eindrücke zusammen und glauben tatsächlich, jemand anderes oder gar wir selbst hätten etwas vorher gewusst. Das ist natürlich Blödsinn, eine typische Verklärung der Rückschau. Hervorragend erläutert ist das im Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahnemann, grob zusammengefasst auch hier.
Und in der aktuellen Printausgabe von Capital können Sie ausführlich nachlesen, warum es auch unsinnig ist, Marktbewegungen vorhersagen zu wollen – die Trefferquote, die Sie benötigen, um mit dem Aus- und Einsteigen auf dem Markt eine bessere Rendite zu erzielen als ein geduldiger Investor, schafft nicht einmal Warren Buffett.
Allein, man kann sich nicht dagegen wehren, wenn eine innere Stimme schreit: „Hier stimmt etwas nicht. Hier ist etwas aus den Fugen geraten."
„Man muss tanzen, solange die Musik spielt“
Und genau ein solches Erlebnis hatte ich in dieser Woche. Ich war zu einem Kapitalmarktausblick einer Bank geladen – lassen wir den Namen und den Tag einmal außen vor. Und schon gleich zu Beginn fiel mir das unwichtige Detail auf, dass in den gereichten Laugenbrezelstücken so viel Butter drin war, dass sie insgesamt dicker war, als die Brezel hoch. Die Butter-zu-Brezel-Ratio als Frühindikator für viel zu viel Euphorie? Ich musste ständig drauf starren und bekam den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf.
Der anschließende Vortrag lief, wie so oft, darauf hinaus, dass die gute Stimmung an den Märkten bestimmt auch 2015 anhalte, es weiter eine Menge Anleihenplatzierungen geben werde, bestimmt auch wieder einige Börsengänge, dass nachrangige Anleihen ziemlich stark gefragt sein dürften. Und das alles in einer Zeit, in der rund die Hälfte der global ausstehenden Staatsanleihen keine 0,5 Prozent Rendite mehr einbringen, es nur minimale Risikoaufschläge für Schrottpapiere gibt, die Liquidität gerade im Anleihenmarkt – den der weltgrößte Vermögensverwalter Blackrock im September ganz offiziell „kaputt“ nannte - zu wünschen übrig lässt.
Ein Kollege warf auch genau diese Frage auf. Ob man sich denn da nicht Sorgen mache bei den mickrigen Zinsen und den Risiken? Und der oberste Banker der Runde gab eine Antwort von verblüffender Offenheit. „Risikoadäquat ist das nicht. Aber man muss tanzen, solange die Musik spielt.“
Der kinoreife Satz stammt dabei gar nicht originär von ihm. Sondern von Charles Prince, dem Ex-Chef des einst größten Finanzkonzerns der Welt, der Citigroup. “As long as the music is playing, you’ve got to get up and dance”, sagte er in einem Interview der Financial Times – am 9. Juli 2007. Weniger Tage später brach der Verbriefungsmarkt für US-Immobilienkredite zusammen und fiel ein Dominostein nach dem anderen bis zur Lehman-Pleite ein gutes Jahr später.
Natürlich weiß niemand genau, wo der Dax oder die Zinsen in einem Jahr stehen. Natürlich bist Markttiming Unsinn. Wenn ein bisschen Orakeln aber erlaubt sein darf, dann fürchte ich, dass ich mich in einigen Jahren auch an eine dick bestrichene Butterbrezel erinnern werde. Und dass ich gar nicht mehr so genau weiß, ob ich anschließend wegen der Menge an Butter ein flaues Gefühl im Bauch hatte. Oder wegen des Tanzen-Zitats. Oder beidem.