Christian Kirchner ist Frankfurt-Korrespondent von Capital. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Geldanlagethemen. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen
Wenn Aktienpessimisten Gründe suchen, warum es völlig richtig ist, dem Aktienmarkt derzeit lieber fernzubleiben, muss dafür seit Jahren häufig der US-Ökonomieprofessor Robert Shiller herhalten. Shiller hatte die US-Häuserpreisblase 2006 und auch die Übertreibungen am Aktienmarkt im Jahr 2000 vorab korrekt erkannt und sich mit der Entwicklung des so genannten „Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnisses“ einen Namen gemacht.
Dabei wird zur Beurteilung, ob ein Aktienmarkt eher teuer oder eher günstig ist, nicht der Gewinn eines Jahres in Relation zum Kurs betrachtet – auf diesem Weg kommt man etwa beim Dax auf ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von rund 18 und beim US-Aktienindex S&P 500 von 19. Stattdessen zieht Shiller den durchschnittlichen Gewinn der vergangenen zehn Jahre heran und setzt ihn in Bezug zum aktuellen Kurs. So sind die zyklisch schwankenden Firmengewinne über ein oder gar zwei Konjunkturzyklen hinweg geglättet.
Denn wer kennt das Problem nicht? Eine Aktie oder gar ein ganzer Aktienmarkt bestechen mit optisch günstigen Bewertungen. Anschließend brechen aber, wie etwa im Jahr 2008, erst der Kurs ein (was die Bewertung immer weiter schrumpfen lässt und Anleger zum Halten animiert), und anschließend folgen die Gewinne und Dividenden. Umgekehrt sind ideale Einstiegszeitpunkte selten an günstigen laufenden Bewertungen im „klassischen“ Kurs-Gewinn-Verhältnis erkennbar, denn in der Regel nehmen Kursanstiege den später folgenden Gewinnanstieg vorweg.
Shiller-KGV ist kein Crash-Indikator
Aussagekräftiger für mittel- und langfristige Investoren ist demnach das sogenannte Shiller-KGV. Weil aber das Shiller-KGV in den USA bei 27 steht und damit ein historisch sehr hohes Niveau erreicht hat, folgern Pessimisten, dass es Zeit sei, aus Aktien auszusteigen, ja sogar ein Crash drohe.
Die Sache hat einen Haken: Der Shiller-KGV ist kein Indikator für nahende Crashs. Das reklamiert nicht einmal Shiller selbst für seinen Bewertungsmaßstab – und gibt unumwunden zu, selbst voll investiert zu sein im S&P 500. Schließlich signalisiert das Shiller-KGV schon seit den frühen 90er-Jahren mit nur kurzen Unterbrechungen eine Überbewertung des US-Markts, was den Aktienmarkt aber nicht von einer Vervielfachung abgehalten hat.
Das Shiller-KGV ist vielmehr ein sehr hilfreicher Indikator für die Höhe künftiger Renditen: Auf ein hohes Shiller-KGV folgen meist niedrige Aktienmarktrenditen, auf ein tiefes hohe Renditen in den folgenden 10 bis 20 Jahren.
Insofern ist der zulässige Schluss nicht, dass uns ein Crash bevorsteht (der natürlich per se jederzeit droht), sondern dass wir von US-Aktien künftig nur überschaubare Renditen werden erwarten können. Sie dürften in den kommenden rund 15 Jahren, wenn auf die Börsen- und Bewertungsgeschichte Verlass ist, in den USA lediglich knapp drei Prozent betragen pro Jahr – verglichen mit knapp sieben Prozent Durchschnittspotenzial pro Jahr für deutsche Aktien und gut acht Prozent für Titel der Eurozone, wie die Vermögensverwalter von Starcapital anhand historischer Börsendaten hochgerechnet haben.
Negativserie beim italienischen Aktienmarkt
Das klingt, zugegeben, recht optimistisch und kann auch nur eine grobe Indikation sein. Es ist aber auch nicht völlig unrealistisch angesichts der Tatsache, dass die meisten Standardwerte Europas inzwischen ein Vielfaches an Dividenden abwerfen, als ihre Anleihen an Zinsen zahlen.
Nun interessieren sich im notorischen Aktienmuffelland Deutschland naheliegenderweise mehr Menschen für potenzielle Crashgefahren am Aktienmarkt als für die Chancen. Schließlich liest man nur allzu gerne, was der Bestätigung der eigenen Position dient. Die umgekehrte Deutung des Shiller-KGVs ist aber auch, dass historisch auf Basis des Shiller-KGVs günstig bewertete Märkte in den kommenden 10 bis 20 Jahren recht hohe Aktienrenditen erwarten lassen.
Folgt man den Hochrechnungen des Vermögensverwalters Starcapital, welche Aktienmarktrenditen auf welche Bewertungen anhand des Shiller-KGVs folgen, gibt es derzeit unter den globalen Aktienmärkten einen klaren Sieger. Es ist: Italien. Die aktuellen Bewertungen italienischer Standardwerte lassen Renditen von im Schnitt knapp zwölf Prozent pro Jahr in den kommenden Jahren erwarten, denn es handelt sich um einen der billigsten Aktienmärkte gemessen am Shiller-KGV weltweit. Es beträgt derzeit acht.
Das Ergebnis kann nur auf den ersten Blick verwundern. Denn tatsächlich haben italienische Aktien gemessen am Aktienindex MSCI Italien nunmehr acht Kalenderjahre in Folge schlechter abgeschnitten als globale Aktien insgesamt – eine kaum zu glaubende Negativserie, in deren Folge der italienische Aktienmarkt inzwischen nur noch in Höhe seines Buchwerts notiert. Kein Wunder: Die größten italienischen Konzerne an der Börse wie ENI, Intesa San Paolo, Enel, Unicredit oder Generali kommen allesamt aus Branchen, die an den Börsen schon seit Jahren nicht mehr gefragt sind: Energie, Versorger und Finanzen.
Mehr als nur eine Zahlenspielerei
Nun sind Aktienmärkte nie ohne Grund günstig, sondern in der Regel, weil es eine Reihe von naheliegenden Gründen gibt, dort nicht investiert zu sein. Auch italienische Titel könnten noch einmal kräftig einbrechen. Beispiele gefällig? Shiller selbst nannte noch zu Wochenbeginn den griechischen und russischen Aktienmarkt als spannende Anlagemöglichkeiten auf Basis seines eigenen Indikators. Beide Märkte waren indes schon Anfang 2014 kaufenswert nach der Lesart seines Indikators – und brachen im letzten Jahr nochmals 39 Prozent (Griechenland) und 45 Prozent (Russland) ein. Aus einer tollen langfristigen Kaufgelegenheit wurde eine extrem tolle Kaufgelegenheit, was zeigt, welche Nerven eine Anlagestrategie anhand des Shiller-KGVs erfordert.
Dennoch steckt mehr dahinter als nur eine amüsante Zahlenspielerei: Dass auf hohe Bewertungen geringe Aktienmarktrenditen folgen und umgekehrt, ist eine der wenigen verlässlichen Tatsachen der Aktienanlyse, sofern man größere Märkte betrachtet und wenigstens zehn bis fünfzehn Jahre Geduld mitbringt – während die Finanzwelt auf einen verlässlichen „Crash“-Indikator vermutlich noch ewig warten wird.