Nadine Oberhuber ist Wirtschafts- und Finanzjournalistin. Sie schreibt auf Capital.de über Geldanlagethemen
Versierte Spurenleser sehen sich nur die Fußabdrücke im Boden an und wissen sofort, welches Tier unterwegs war. Sie erkennen sogar, in welchem Modus es sich befand: War es auf Flucht oder Angriff gepolt oder einfach nur ganz entspannt? Die Chartleser an der Börse tun sich dagegen zurzeit erheblich schwerer. Sehen sie nun einen Bärenmarkt mit kleiner Zwischenerholung? Das könnte man meinen, wenn man sich den Kursverlauf der vergangenen zwölf Monate ansieht. Oder ist es ein Bullenmarkt mit größerer Korrektur? Diesen Schluss könnte man aus einem langfristigeren Blick auf die abgelaufenen drei bis fünf Jahre ziehen. Je größer Abstand zu den aktuellen Kursbewegungen, desto mehr gerät man ins Grübeln: Welches Tier regiert nun die Börsen? Kurz vor Ostern gab der Hedgefondsmanager und Milliardär Jim Paulson dazu seinen Tipp ab: Es ist ein Hasenmarkt. Und er hoppelt auch nach den Feiertagen kräftig weiter.
Nun gelten Hasen in Literatur und Sage immerhin als Boten der Frühlingsgöttin und zu Ostern bringen sie den Kindern die Eier. Sie sind also Sinnbild für den Neubeginn, das könnte direkt Laune machen. Doch so hat Paulson es leider nicht gemeint. Er bezeichnet die Kursbewegungen als Hasenspur, weil man dort nur ein paar große Hüpfer in ständig wechselnde Richtungen sieht – aber keiner weiß genau, wohin es als nächstes geht. Genau wie bei einem Hasen, der Haken schlägt. Insgesamt driftet die Spur des Dax und der anderen Indizes derzeit bloß hasenfüßig seitwärts. Seit Monaten schon. Mancher Analyst ist ratlos und rechnet vor, dass der deutsche Leitindex zurzeit auf dem gleichen Stand steht wie im November 2014. Waren die vergangenen eineinhalb Jahre also verlorene Jahre?
Natürlich kann man das so sehen, wenn man ein Mittelfristanleger ist, der über exakt diese Zeit investiert war und jetzt an den Ausstieg denkt. Man muss allerdings auch dazu sagen: In genau dieser Zeit hat der Dax von anfangs 9000 Punkten (und 9700 Punkten Ende November 2014) auf immerhin 12.000 Punkte im April 2015 zugelegt. Er hat dabei seinen bisherigen Allzeit-Höchststand erklommen und gut 30 Prozent an Wertsteigerung erfahren. Wer das im April 2015 ahnte und rechtzeitig noch im Frühjahr ausstieg, der sackte enorme Gewinne ein. Für Kurzfristanleger waren also 30 Prozent Rendite drin. Ist das etwas nichts?
Im 21. Jahrhundert ist alles anders
Nun ist der Index von dort oben auch schnell wieder abgesackt und nun zu eben diesen 9700 Punkten wieder zurückgekehrt. Für alle, die den Ausstieg also nicht schafften, heißt die Devise nun wohl oder übel: Werden Sie Langfristanleger – und nur nicht nervös! Sondern warten Sie darauf, dass die Zeit der Hasen auch wieder vorübergeht und der Index wieder stabil nach oben klettert. Irgendwann wird das ja wohl passieren, zumindest hat es in den vergangenen 120 Börsenjahren bisher noch immer zuverlässig geklappt. Nur ist natürlich die Frage: Wie lang kann das wohl dauern?
Die bedrückende Antwort lautet, so raunen Chartexperten: Seitwärtsmärkte dauern manchmal länger als man denkt. Mit ziemlicher Regelmäßigkeit habe im 20. Jahrhundert jede Hausse 15 Jahre gedauert, rechnen Analysten vor, worauf stets eine Seitwärtsbewegung in ähnlicher Länge folgte. Demnach müssten wir uns auf weitere 13,5 Hasenjahre einstellen. Klingt brutal, oder? Man kann sich davon bange machen lassen – es aber auch genauso gut nachrechnen, und dann stellt man fest: Diese Rechnung mag vielleicht für das 20. Jahrhundert gelten. Doch wir befinden uns im 21. Jahrhundert und mittlerweile ist alles irgendwie anders.
Tatsächlich dauerte eine der jüngsten großen Haussen von 1987 bis 2000 wirklich 13 lange Jahre. Danach folgte der Absturz der New Economy mit dem Platzen der Dotcom-Blase, das bedeutete also drei Jahre Sinkflug für die Kurse. Aber gab es danach einen ausgeprägten Seitwärtsmarkt? Danach bewegten sich der Aktienindex Dax und einige seiner Kollegen eben nicht seitwärts, sondern sie strebten fünf Jahre wieder steil bergauf. Der Dax übersprang währenddessen wieder seine vorherige Höchstmarke von 8000 Punkten. Dann kam die Finanzkrise 2008 und er brach wieder für eineinhalb Jahre ein. Der Kursverfall stoppte allerdings dann viel früher als der Absturz zuvor, nämlich gut 1500 Punkte über dem Tiefststand von 2003. Strebte er danach seitwärts? Nein, der neue große Aufschwung bis zum Frühling 2015 setzte ein.
Wellenbewegungen mit großen Ausschlägen
Gut, es stimmt, dass sich viele Marktbeobachter nach dem Absturz in der Finanzkrise fragten, ob sie nun ein verlorenes Jahrzehnt erlebt hätten. Schließlich hatten sich die Kurse – wenn man lediglich den Zeitraum zwischen 2000 bis 2010 herausschneidet – unter großen Schwankungen bloß seitwärts bewegt und standen 2010 dort, wo sie 2000 bereits einmal gestanden hatten. Unterm Strich hatten Langfristanleger über zehn Jahre so gut wie keine Rendite eingefahren. Doch schon zwei Jahre später sah das erheblich anders aus, da kamen sie schon auf 18 Prozent Rendite, 2013 sogar schon auf 43 Prozent. Würde man deswegen sagen, die Zeit von 2000 bis 2010, also die Zeit der großen Abstürze, war ein Hasenmarkt? War es nicht eher ein Markt der ungeahnten Möglichkeiten?
Rückblickend erkennt man, dass es eine Phase der Wellenbewegungen mit großen Ausschlägen war, doch es gab einen ganz leichten Aufwärtstrend, der sich ab 2010 zu einem großen Aufschwung auswuchs. 2010 bis 2015 waren starke Bullenjahre - und wohl dem, der daran schon glaubte, als alle anderen noch die zehn verlorenen Jahre betrauerten.
Nun zur verlorenen Zeit ab 2014: Die zu beklagen erscheint ebenfalls arg wehleidig, wenn man bedenkt, dass der Aktienindex Dax dafür auf Dreijahressicht immerhin 25 Prozent an Wert zugelegt hat. Wer in den vergangenen fünf Jahren investiert war, schaffte 42 Prozent und auf zehn Jahre immerhin 65 Prozent. Verlorene Jahre waren die vergangenen also gewiss nicht. Trotz – oder gerade wegen – der großen Krisen waren gigantische Gewinne drin, selbst für Hasenfüße, die lediglich mit passiven Indexfonds dem Verlauf des Referenzkurses folgten. So gesehen könnte man die richtungslosen Hüpfer derzeit also locker noch eine Weile tatenlos beobachten, bis sich klar definieren lässt, welches Börsentier als nächstes den Kurs bestimmt.
Machen Sie den Depotcheck für 2016! Ermitteln Sie die Renditeerwartungen
und das eingegangene Risiko
Ihres Depots:
www.capital.de/depotcheck.html
Allerdings gibt es auch Möglichkeiten, inzwischen von den großen Ausschlägen zu profitieren. Kurz- oder Mittelfristanleger können sozusagen versuchen, den Hasen zu jagen. Das geht selbst mit passiven Indexfonds, die man kauft, wenn die Kurse wieder einmal in Richtung der 9000er Marke hüpfen. Das immerhin ist satte 3000 Punkte vom gerade erst gesehenen Höchststand entfernt und man erkauft sich auf diesem Wege die Chance, bei einem neuerlichen Kursanstieg noch einmal 30 Prozent Gewinn mitzunehmen. Jedenfalls wenn man die Papiere dann auch konsequent wieder verkauft, bevor der Hase den nächsten Haken schlägt in Richtung 9000 oder 10.000 Punkte.
Oder man wählt eine Strategie, die sich besonders in Seitwärtsmärkten bezahlt macht: Man setzt auf einzelne unterbewertete Aktien. Gerade mit den unscheinbaren Aktien nämlich kann man stolze Gewinne einfahren, auch wenn die Kurse insgesamt eher richtungslos dahindümpeln. Genauso wie mit den Werten aus der zweiten und der dritten Reihe, den kleinen und mittleren Unternehmen aus SDax und MDax also. Schwergewichte wie die großen Blue Chips, die ohnehin einen Großteil des Indexverlaufs bestimmen, bringen dem Depot eher keinen Schub.
Also: Konzentrieren Sie sich auf die Papiere, die im Vergleich zu anderen deutlich günstiger zu haben sind. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) und Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) zeigen an, ob der Börsenwert den tatsächlichen Wert des Unternehmens widerspiegelt. Sind beide Werte klein, sind die Aktien günstig zu haben und es ist anzunehmen, dass der Kurs bald einen größeren Satz machen wird. Denn auf lange Sicht nähern sich Börsenbewertung und die tatsächliche Firmenleistung an. Zu so einem Aktieninvestment gehört Mut. Haben Sie den nicht? Ok, dann kaufen Sie beim nächsten Abwärtsdrall trotzdem bevorzugt Aktien und warten Sie, bis die Kurse auf breiter Front wieder steigen. Kein Hase bleibt schließlich ewig auf der Flucht.