#1 Was macht Wirecard eigentlich genau?
Wirecard agiert vor allem als sogenannter Acquirer. Weil sich Unternehmen am liebsten auf ihr Kerngeschäft konzentrieren und sich nicht mit Fragen der Solvenz oder der Gültigkeit des vom Kunden gezückten Zahlungsmittels auseinandersetzen wollen, greifen sie gerne auf die Leistungen eines Acquirers zurück. Der stellt ihnen in Aussicht, den Betrag abzüglich einer Gebühr gutzuschreiben, den ein Kunde für ein Produkt oder eine Dienstleistung schuldig ist. Anschließend kümmert sich der Acquirer dann selbst um die Abwicklung und läuft dem Geld des Kunden über dessen Bank und Kartenanbieter notfalls hinterher.
Vorteil für den Händler: Er hat wenig Aufwand und trägt kein Risiko. Vorteil für den Acquirer: Kann er das Risiko der Transaktion richtig abschätzen – etwa, ob ein falsches, ungedecktes, geklautes Zahlungsmittel zum Einsatz kommt – kann er aus der Differenz zwischen seiner einbehaltenen Gebühr und seinen tatsächlichen Zahlungsausfällen einen Gewinn schöpfen. Und den ganzen Vorgang in Ruhe abwickeln.
Dieses Geschäft ist keineswegs neu. Neu sind, erstens, die enormen Wachstumsraten, die der elektronische Zahlungsverkehr zwischen Unternehmen und Endkunden in den vergangenen 15 bis 20 Jahren durch die Digitalisierung erfahren hat und, zweitens, die steigende Zahl von Bezahlmöglichkeiten. Beides stellt hohe Anforderungen an Technologie und Geschwindigkeit. Die Entscheidung, ob die Transaktion zustande kommt, benötigt zunächst nur Bruchteile von Sekunden im Moment des Zahlungsvorgangs. Schließlich wollen Händler und Acquirer verhindern, dass der Kauf- und Bezahlprozess abgebrochen wird.
Am einfachsten kann man sich die neue Welt des elektronischen Bezahlens anhand eines simplen Produkts wie einer Modelleisenbahn bei einem großstädtischen Spielzeughändler vorstellen. Früher verkaufte dieser Modelleisenbahnen nur in seinem Geschäft oder bestenfalls über einen Katalog per Rechnung oder Vorabüberweisung. Meist übernahm die Hausbank die Abwicklung.
Heute verkauft der Händler Modelleisenbahnen immer noch in seinem Geschäft, er muss dort aber, um wettbewerbsfähig zu bleiben, auch die Zahlung per EC-Karte oder Kreditkarte an kleinen Terminals an der Kasse anbieten. Das gleiche gilt für den inzwischen oft unverzichtbaren Vertriebsweg per Internet, wo sich ebenfalls ein Strauß an Bezahlmöglichkeiten eröffnet: Lastschrift, Rechnung, Kreditkarte, Paypal, Sofortüberweisung. Womöglich gibt ein Kunde Bezahldaten auch telefonisch durch. Je weniger Arbeit der Händler damit hat, desto besser. Dafür nimmt er womöglich lieber den sicheren Erlös von 190 Euro für eine Eisenbahn, die er dem Kunden für 200 Euro verkauft. Die Differenz dient dem Acquirer als Sicherheit, aus der er am Ende seine Marge schöpfen kann. Und: Das gleiche gilt in weit größerem Maßstab auch für andere Produkte etwa Flugtickets, Urlaubsreisen, Laptops und so weiter.
Klingt trivial? Ist es aber nicht. Denn das Wachstum des elektronischen Zahlungsverkehrs ermöglicht natürlich auch vielfältige Betrugsmöglichkeiten, die die Akteure erkennen müssen. Früher mussten Betrüger schon eine Kreditkarte physisch entwenden oder duplizieren, um damit Schaden anzurichten. Heute genügt bereits die Kenntnis einer gültigen Kreditkartennummer, um auf digitale Shoppingtour zu gehen. Zudem können Transaktionen stets auch wieder abgebrochen, elektronisch bezahlte Flugtickets wieder storniert werden – und die Transaktion muss rückabgewickelt werden.
#2 Was macht die Erfolgsgeschichte von Wirecard aus, die das relativ unbekannte Unternehmen nun bis in den Dax geführt hat?
In einem Satz: Wirecard hat mit dem Acquiring und der Prozessabwicklung von Zahlungsvorgängen seit der eigentlichen Gründung des Konzerns im Jahr 2002 ein Geschäftsfeld besetzt, das nicht zum Kerngeschäft deutscher Banken gehörte. Es wurde überwiegend an Beteiligungen und Tochtergesellschaften ausgelagert.
Wirecard ist ein Profiteur des Wachstums beim Internethandel zwischen Unternehmen und Endkunden sowie der elektronischen Zahlungsabwicklung. Weltweit werden sich die Umsätze im Internethandel mit Endverbrauchern in diesem Jahr auf rund 2000 Mrd. Euro summieren. Sie haben sich binnen eines Jahrzehnts vervierfacht, in Deutschland verdreifacht.
Ferner steigt auch die Nutzung von elektronischen Zahlungsmitteln im Handel. Gemessen an den Transaktionen entfällt nach einer Studie der Bundesbank bereits gut ein Viertel und gemessen am Umsatz über die Hälfte aller Transaktionen von Verbrauchern in Deutschland auf bargeldlose Zahlungen. 97 Prozent der Deutschen haben eine klassische Debit-Karte, 36 Prozent eine Kreditkarte. Weiteres Wachstum für die bargeldlose Abwicklung von Käufen im stationären Handel verspricht das kontaktlose Bezahlen, für das mehr und mehr Kredit-, Debitkarten und mittlerweile auch Smartphones zum Einsatz kommen.
All dies beflügelt Wirecard, das alleine im ersten Halbjahr Geschäfte im Volumen von 56 Mrd. Euro abgewickelt hat. Der Konzernumsatz betrug im letzten Jahr rund 1,5 Mrd. Euro, bis 2020 soll er auf 3 Mrd. Euro steigen bei zugleich höheren Margen.
#3 Wo liegen die Schwächen und Fragezeichen?
Es gibt vor allem vier Punkte, die Wirecard aus Sicht von Kritikern angreifbar machen. Da ist erstens die Vergangenheit: In den Nuller Jahren war der Bedarf nach schnellen, elektronischen und idealerweise anonymen Zahlungsmitteln bei Endkunden und Unternehmen im Internet vor allem in Schmuddelbranchen wie etwa der Pornoindustrie und beim Online-Glücksspiel groß. Auch Wirecard erwirtschaftete damit einst signifikante Erlöse, die allerdings heute nach Unternehmensangaben kaum noch eine Rolle spielen.
Da ist zweitens die Bilanz: Wirecard verfügt bereits seit 2006 über eine eigene Banklizenz. Das bedeutet, dass es zwei Konzernbilanzen gibt, eine von Wirecard und eine von der Wirecard Bank. Das ist an der Börse eine eher ungewöhnliche, wenngleich branchenübliche Konstellation. Mit ihr bewegt sich Wirecard auch für Analysten und Investoren "zwischen den Welten" von Unternehmens- und Bankexperten.
Diese Bilanzierungspraxis macht es selbst für gestandene Investoren teilweise schwierig, den Wegen der Forderungen, Verbindlichkeiten und letztlich auch Gewinnen zu folgen. Unternehmensexperten scheitern oft an Bankbilanzen. Bei Acquirern mit Banklizenzen kommen aber stets beide Seiten ins Spiel, gibt es wechselseitige Forderungen und Verbindlichkeiten. Hier sind Acquirer wie Wirecard die bilanziellen Exoten, denn selbst bei der Definition, was eigentlich in einer Bilanz als „Cash“ oder „Cash-ähnlich“ gilt und wem es zuzuordnen ist, gibt es Spielräume.
Da sind – und dies hängt eng mit der für Laien schwer verständlichen Bilanz zusammen – drittens die Übernahmeaktivitäten: Wirecard hat in den vergangenen Jahren bei seinem Wachstum den Turbo über zahlreicher Übernahmen zugeschaltet. Seit 2014 hat das Unternehmen acht Übernahmen im Umfang von rund 800 Mio. Euro getätigt. Dabei kam laut Analysten vor allem Betriebskapital zum Einsatz, das eigentlich aus dem Kerngeschäft des Acquiring stammt.
Und da wäre viertens das Thema Bewertung: Die Wirecard-Aktie hat eine atemberaubende Kursentwicklung hingelegt: Knapp verachtfacht hat sich der Kurs binnen fünf Jahren und verzweihundertfacht seit 2003. Mit einem Börsenwert von 24 Mrd. Euro steigt Wirecard nun auch in den Deutschen Aktienindex Dax auf. Allerdings entspricht der Börsenwert dem 16-Fachen der letzten Erlöse und dem 64-Fachen der Gewinne. Diese Bewertung setzt noch einige Jahren hohen Wachstums zwingend voraus. Auffällig ist zudem: Wirecard ist die größte Position in einigen milliardenschweren Fonds, wie dem Alken European Growth, dem Jupiter European Growth, dem Alken Absolute Return Europe und weiteren europäischen Aktienfonds. Teils liegt jeder zehnte verwaltete Euro in Wirecard und damit das Maximum, was die Regularien für Investmentfonds überhaupt hergeben.
Wirecard ist unter den mittelgroßen deutschen und europäischen Aktien zu einem entscheidenden Titel geworden: Wer die Aktie als Fondsmanager nicht besaß, hatte aufgrund der enorm starken Kursentwicklung meist Schwierigkeiten, dem Markt zu folgen. Dabei polarisiert Wirecard bis heute: Manche Fondsmanager schwören auf die Aktie und sehen ihre Entwicklung immer noch in einem frühen Stadium eines langen Booms. Andere geben gegenüber Capital in Hintergrundgesprächen offen zu, selbst mit einem 10köpfigen Team aus Analysten und Junior-Fondsmanagern hätten sie die Bilanzierungspraxis sowie die Finanzierung von Übernahmen nicht nachvollziehen können.
#4 Was ist eigentlich aus den Vorwürfen zum Thema Leerverkäufe geworden, die im Raum standen?
Bislang nichts: Die Leerverkäufer, die 2016 13 Prozent aller Wirecard-Aktien geliehen und am Markt verkauft hatten, um auf fallende Kurse zu setzen, haben sich unter schweren Verlusten fast vollständig zurückgezogen. Nur noch gut ein Prozent aller Aktien ist leer verkauft. Schließlich hat sich der Kurs der Aktie seit der jüngsten Short-Attacke im Frühjahr 2016 – seinerzeit flankiert von einer Studie einer anonymen Analystengruppe namens „Zatarra“, die gleichwohl später enttarnt wurde - nochmals vervierfacht. Bei den meisten Investoren wie Analysten konnte Wirecard die erhobenen Vorwürfe entkräften und hat selbst die Transparenz seines Zahlenwerks erhöht. Die kritischen Studien zu Wirecard enthielten zudem keine konkreten Vorwürfe, sondern bedienten sich in der Regel einer Strategie, bei der nur Fragen aufgeworfen wurden.
#5 Wie ist der Dax-Aufstieg einzuordnen? Ist das nun eine Zäsur – dass ein Fintech ein traditionsreiches Institut wie die Commerzbank aus dem Leitindex verdrängt?
Der Aufstieg von Wirecard in und der Abstieg der Commerzbank aus dem Dax ist schlicht eine Funktion der unterschiedlichen Geschäftsfelder und weniger eines „Kampfs“ zwischen alten und neuen Akteuren, Jägern oder Gejagten. Vereinfacht: Das klassische Bankengeschäft steht vor allem aufgrund der immer stärker sinkenden Zinsmargen vor großen Herausforderungen, die Erlöspotenziale sinken, die Konkurrenz ist gerade in Deutschland groß und die Regulierungskosten belasten das Geschäft. Acquiring hingegen wächst, weil auch der elektronische Zahlungsverkehr steile Wachstumsraten aufweist. Es hat auch in anderen Ländern neue "Champions" hervor gebracht - etwa Adyen in den Niederlanden : Gegründet 2006, an die Börse gegangen 2018, inzwischen 18 Mrd. Euro wert.
Die historisch bemerkenswerte Fußnote ist, dass sich die Banken einst entschieden haben, Acquiring und die Prozessabwicklung nicht als Kerngeschäft anzusehen. Diese strategischen Entscheidungen mögen diskutabel sein. Allerdings hatten Analysten und Investoren von Banken immer wieder eine Konzentration auf das Kerngeschäft verlangt, statt sich auf zu vielen Geschäftsfeldern zu verheddern. Ferner erfordert Acquiring laufend Investitionen in Technologien und Know-how und mit den Jahren stiegen die Markteintrittsbarrieren, da es auch ein Skalengeschäft ist. Großbanken standen daher schon vor längerer Zeit vor der Frage, es „ganz“ oder „gar nicht“ zu betreiben.
Dass nur einige wenige Spezialisten im großen Stil im Acquiring tätig sind, folgt durchaus der Logik einer tendenziell immer arbeitsteiligeren Finanzdienstleistungsbranche. Es war zudem in den Jahren dieser Weichenstellungen in den 90er- und Nuller-Jahren noch nicht entfernt absehbar, unter welchen Ertragsdruck das Geschäft der Banken über negative Einlagenzinsen und einer flachen Zinskurve – also der Realität seit 2015 – geraten könnte.