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Kolumne Plädoyer für einen neuen Sozialvertrag

Die Volkswirtschaften brauchen eine revolutionäre Neuordnung von Ausbildung, Arbeit, Rente und Freizeit. Statt starrer Ruhestandsregelungen werden flexible Übergänge benötigt. Von Kemal Dervis
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Kemal Derviş, ehemaliger Wirtschaftsminister der Türkei und Direktor des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, ist Vizepräsident der Brookings Institution.

Hartnäckige Arbeitslosigkeit, Ruhestandsregelungen und Qualifikationsungleichgewichte sind heute weltweit zum Kernthemen der Haushaltspolitik geworden, über die hitzige Debatten geführt werden. Die Industriestaaten stehen vor einem schwierigen „Alterungsproblem“, aber auch die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer befinden sich mitten in einem demografischen Übergang, der innerhalb von nur zwei oder drei Jahrzehnten zu einer ähnlichen Altersstruktur wie in den Industrieländern führen wird – also zu einer umgekehrten Pyramide. In China wird dies sogar noch viel früher geschehen.

Der Arbeitsmarkt ist von mehreren Problemen betroffen. In Europa, den Vereinigten Staaten und Japan bleibt nach der Finanzkrise, die im Jahr 2008 begann, die schwache Nachfrage weiterhin ein Schlüsselfaktor. Aber auch langfristige Strukturprobleme spielen eine Rolle.

Am wichtigsten ist die Tatsache, dass die Globalisierung zu einer ständigen Verschiebung von Wettbewerbsvorteilen führt. Da Arbeitsplatzverluste in alten Wirtschaftsbereichen durch neue Aktivitäten nicht notwendigerweise kompensiert werden, schafft dies schwierige Anpassungsprobleme. Die meisten neuen Arbeitsplätze erfordern andere Fähigkeiten, was bedeutet, dass Arbeitskräfte, die ihre Jobs in sterbenden Industriezweigen verlieren, wenig Hoffnung haben, neue Arbeit zu finden.

Darüber hinaus wird der technische Fortschritt „Arbeit sparen“. Computer und Roboter ersetzen menschliche Arbeit in Umgebungen die von Supermärkten bis zu den Fließbändern in der Automobilindustrie reichen. Angesichts der volatilen makroökonomischen Aussichten zögern viele Unternehmen, neue Arbeitskräfte einzustellen, was weltweit zu hoher Jugendarbeitslosigkeit führt.

Gleichzeitig stellt die Alterung der Bevölkerung – und die damit verbundenen Gesundheitskosten für die Senioren – für die Haushalte der fortgeschrittenen Industrieländer die größte Herausforderung dar. Bis Mitte des Jahrhunderts wird die Lebenserwartung der 60-Jährigen im Vergleich zur Nachkriegszeit, in der die aktuellen Renteneintrittsalter festgelegt wurden, um etwa zehn Jahre zugenommen haben.

Lebenslanges Lernen

Dass geringfügige Änderungen der bestehenden Verhältnisse ausreichen, um auf technologische Kräfte zu reagieren, soziale Spannungen zu reduzieren oder die Ängste junger Menschen zu beruhigen, ist unwahrscheinlich. Wir brauchen eine radikale Neueinschätzung von Arbeit, Ausbildung, Rente und Freizeit, und im Zentrum jeder umfassenden Reform müssen einige Grundprinzipien stehen.

Zunächst einmal müssen Ausbildung und persönliche Entwicklung zu einem lebenslangen Prozess werden. Dies beginnt mit der formalen Schulbildung, wird aber durch Ausbildung am Arbeitsplatz und Zeiten von Vollzeitausbildung in verschiedenen Lebensphasen fortgesetzt. Spezielle Programme zur Integration junger Menschen müssen zum normalen Teil der öffentlichen Arbeitsplatz- und Karriereförderung werden. Dazu sollten während der ersten ein oder zwei Jahre der Anstellung Ausnahmen bei der Sozialversicherungspflicht geschaffen werden.

Ein zweites Prinzip besteht darin, dass der Übergang in das Rentenalter zu einem schrittweisen Prozess wird. Menschen könnten bis zu ihren 50er-Lebensjahren jährlich 1800 bis 2000 Stunden arbeiten, dann in ihren 60ern 1300 bis 1500, und dann mit 70 ihre Stundenzahl auf 500 bis 1000 Stunden jährlich reduzieren. Eine Krankenschwester, ein Flugkapitän oder eine Lehrerin könnten also beispielsweise bis in ihre späten 50er fünf Tage in der Woche arbeiten, bis 62 dann vier Tage, bis 65 drei Tage und bis zum Alter von 70 Jahren dann nur noch zwei Tage.

Arbeitgeber und Angestellte könnten solche flexiblen Modelle gemeinsam aushandeln, aber dies sollte mithilfe staatlicher finanzieller Unterstützung und Anreize geschehen – beispielsweise durch flexible Sozialversicherung und Einkommensteuer. Bis zum Alter von 45 Jahren könnten drei bis vier Wochen bezahlten Urlaubs gewährt werden, was bis zu den späten 60ern dann auf sieben bis acht Wochen angehoben wird. In Ländern wie den Vereinigten Staaten, wo Mutter- und Vaterschaftsurlaub wenig ausgeprägt ist, sollten diese Leistungen verbessert werden.

Die Politik muss auch den Bereich individueller Wahlfreiheit vergrößern. Alle zehn Jahre sollte ein Angestellter beispielsweise die Möglichkeit haben, ein formelles Ausbildungsjahr nehmen zu können, während dessen ein Drittel seines Gehalts vom Arbeitgeber bezahlt wird, ein weiteres Drittel aus öffentlichen Mitteln stammt und ein Drittel aus persönlichen Ersparnissen (dieses Verhältnis kann je nach Einkommensklasse variieren).

Arbeiten bis 70

Das Ziel sollte eine Gesellschaft sein, in der Bürger unter der Voraussetzung guter Gesundheit bis zu einem Alter von etwa 70 Jahren arbeiten und Steuern zahlen, aber bei zunehmendem Alter je nach persönlichen Umständen in geringeren und flexibleren Ausmaß. Ein schrittweiser und flexibler Eintritt ins Rentenalter würde in vielen Fällen nicht nur den Arbeitgebern und dem Staat nützen, sondern auch den Arbeitern und Angestellten selbst, da fortgesetzte Berufstätigkeit oft eine Quelle persönlicher Befriedigung und emotional bereichernder sozialer Interaktion sein kann.

Mithilfe der weltweiten Gallup-Umfrage haben meine Kolleginnen an der Brookings Institution in Washington, DC, Carol Graham und Milena Nikolova, herausgefunden, dass diejenigen Bevölkerungsgruppen am glücklichsten sind, die Teilzeit arbeiten. Im Austausch für ein längeres Arbeitsleben hätten Bürger während ihres ganzen Lebens mehr Zeit für Freizeit und Ausbildung, was ihre Produktivität und Lebenszufriedenheit positiv beeinflussen würde.

Der neue Sozialvertrag für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts muss so gestaltet sein, dass er realistische Haushaltsplanung, individuelle Vorlieben sowie große soziale Solidarität und Sicherheit mit Schutz vor persönlichen Fehlschlägen und einer wechselhaften Wirtschaft vereint. Viele Länder unternehmen bereits Schritte in diese Richtung. Sie sind aber noch zu zögerlich. Was wir brauchen, ist eine umfassende und revolutionäre Neuordnung von Ausbildung, Arbeit, Rente und Freizeit.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Copyright: Project Syndicate, 2013.
 www.project-syndicate.org

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Foto: © Getty Images

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