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Kolumne Singapur – Er hat´s erfunden

Lee Kuan Yew ist gestorben. Der Gründervater Singapurs verkörperte wie kein Anderer den rasanten Aufstieg eines neuen Asien
Trauer in Singapur: Staatsgründer Lee Kuan Yew ist tot (Foto: Getty Images)
Trauer in Singapur: Staatsgründer Lee Kuan Yew ist tot (Foto: Getty Images)

Christian Schütte schreibt an dieser Stelle über Ökonomie und Politik

Es gibt eine Schätzung der OECD, nach der in 15 Jahren rund 4,9 Milliarden Menschen zur globalen Mittelschicht gehören werden. Zwei Drittel davon werden in Asien leben. Die Region hat in den vergangenen Jahrzehnten einen spektakulären wirtschaftlichen Aufstieg geschafft. Heute ist sie wirtschaftlich, technologisch und ideologisch dabei, sich von den alten Vorbildern im Westen zu emanzipieren.

Lee Kuan Yew, der jetzt im Alter von 91 Jahren verstorbene Staatsgründer Singapurs, war einer der wichtigsten Wegbereiter dieses neuen Selbstbewusstseins. Unter seiner Regentschaft arbeitete sich eine heruntergekommene Ex-Kolonie ohne irgendwelche Bodenschätze zur drittreichsten Volkswirtschaft der Welt hoch. Das Pro-Kopf-Einkommen der rund 5,5 Millionen Einwohner des High-Tech-Stadtstaats ist heute kaufkraftbereinigt mehr als anderthalb mal so hoch wie in Deutschland.

So wie die Schweiz in aller Welt als Chiffre für stabilen Wohlstand gilt, so ist Singapur heute das Synonym für eine rasante und konsequente Entwicklung an die Weltspitze. Von Panama bis Gaza träumen viele davon, dieses Wirtschaftswunder irgendwie zu kopieren.

Partner und Provokation für den Westen

Lee Kuan Yew hat aber nicht nur ein Erfolgsmodell für kleine weltoffene Volkswirtschaften geschaffen. Er hat auch die Kommunisten in Peking bei ihrer Entscheidung für die wirtschaftliche Öffnung beeinflusst. Im weiteren Sinne zählt er damit zu den geistigen Vätern der wohl wichtigsten weltwirtschaftlichen Verschiebung des 21. Jahrhunderts: Des Aufstiegs Chinas zur ökonomischen Supermacht.

Für den Westen war und ist Lees Singapur nicht nur ein faszinierender Partner. Es ist zugleich eine Provokation. Denn der Weg, den dieser Musterstaat gegangen ist, war eben nicht der Weg von größtmöglicher Freiheit und Demokratie. Singapurs Politik ist paternalistisch. Keine finstere Diktatur, aber geführt mit straffem Zügel. Lee Kuan Yew hat diesen autoritären Kurs mit "asiatischen Werten" gerechtfertigt und schon früh eine eigenständige Gegenposition zum westlichen Gesellschaftsmodell vertreten.

Diese Gegenposition, die vor zwanzig Jahren erst eine Würzbeimischung für internationale Podiumsdiskussionen war, ist inzwischen zu einer mächtigen weltpolitischen Kraft geworden. Viele blicken neidvoll auf das Konzept einer aufgeklärten und leistungsorientierten Technokratenherrschaft, das ja auch in China seit Jahren so erfolgreich zu sein scheint. Lee Kuan Yew hat vorgemacht, wie es zum wirtschaftlichen Aufstieg führen kann.

Der Westen muss Singapur nicht kopieren

Seltsamerweise sind es nicht nur die Konservativen im Westen, die sich für solch ein Modell begeistern. Auch und gerade "progressive" Linke sind fasziniert von den staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten einer autoritären Regierung. Wenn Amerikas politisches System doch nur "für einen Tag wie China" wäre, könne das Klimaproblem viel besser gelöst werden, argumentiert etwa der einflussreiche "New York Times"-Kolumnist Thomas Friedman.

Überzeugend ist das nicht. Bei allen Erfolgen Asiens gibt es keinen Grund, in Europa oder Amerika die eigenen Erfahrungen und Lehren über Bord zu werfen. Dazu gehört, dass politische Macht immer strikt kontrolliert und begrenzt werden muss, weil leider kein Verlass darauf ist, dass stets nur wohlmeinende Autokraten vom Kaliber eines Lee Kuan Yew an der Spitze stehen.

Der Westen muss weder Singapur noch China kopieren. Er muss sich allerdings von der bequemen Vorstellung verabschieden, dass er ökonomisch qua Geburtsrecht immer vorn liegt. Und politisch das Modell ist, auf das der Rest der Welt gleichsam naturgesetzlich zustrebt.

Lee Kuan Yew war der Staatsmann des neuen Asien, der das in Tat und Wort als Erster ganz klar gemacht hat.

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