Die Philosophie eines Wein-Snobs könnte man in sechs Worten zusammenfassen: Groß ist schlecht, klein ist gut. Für Weinhersteller, die bei Händlern, Sommeliers und Sammlern, die das Wort „Boutique“ im Mund führen, mit der geringen Menge ihrer Produktion werben, ist klein ein Synonym für Qualität. Auf der anderen Seite wird groß automatisch als schlecht verstanden. Demnach muss jeder Wein, der von einem großen Winzer in großen Mengen produziert wird, ganz sicher das Ergebnis maschineller Produktion mit angeschlossenem Marketingteam sein – und nicht das Produkt einer engagierten Familie. Doch tatsächlich gibt es für diese Regel der Wein-Snobs zahlreiche Ausnahmen. Viele gute, ja sogar weltberühmte Weine stammen aus großen Kellereien. Umgekehrt gibt es richtig miese Weine, die in geringen Mengen von Herstellern produziert werden, die nur eine One-Man- oder One-Woman-Show sind. Was also sind die wirklichen Vorzüge von klein versus groß? Für den Weinimporteur Jake Halper, dessen Firma Field Blend auf kleine Hersteller spezialisiert ist, haben kleine Winzereien den „Vorteil einer Familiengeschichte“. Solch eine Geschichte, sagt er, sei ein wichtiger Punkt, der ihm beim Verkauf hilft, wenn er mit Händlern oder Sommeliers spricht. Manchmal kommt es auch schlicht auf Mengen an. Halper kannte einmal einen Händler, der grundsätzlich keinen Wein kauft, von dem mehr als 300 Kartons produziert wurden.
Individueller Geschmack
Gibt es neben der möglichst verlockenden Familiengeschichte noch andere Vorteile, die kleinere Hersteller genießen? Ein Wein eines kleinen Betriebs kann einen individuelleren Geschmack bieten – vor allem, wenn er von einem Weinberg stammt, der von einem einzelnen Winzer kultiviert wird, und kein Verschnitt ist von verschiedenen Weinbergen, die von einem Unternehmen bewirtschaftet werden (Fans reden hier gerne von „Authentizität“). Ein Hersteller, der nur kleine Mengen produziert, kann mehr experimentieren. Er muss nicht den Diktaten eines Brand Managers oder eines Marketingteams gehorchen. Ein kleiner Hersteller kümmert sich wahrscheinlich selbst um sein Produkt und hat deshalb nach landläufiger Meinung auch eine größere Kontrolle über den gesamten Prozess. Als ich beispielsweise den bekannten Cornas-Produzenten Olivier Clape in der nordfranzösischen Rhône-Region anrief, war er gerade draußen zum Pflügen. An seiner Stelle antwortete seine Frau Geneviève. Und schließlich noch: Wenn es einen Wein nur in begrenzter Menge gibt, können ihn nur ein paar glückliche Kunden kaufen – was dazu führt, dass man eine gewisse Zufriedenheit spürt, wenn man sich eine Flasche sichern kann. Als ich eine Flasche von Clapes Saint-Péray (388 Kartons) erwarb, äußerten prompt gleich zwei Verkäufer ihre Bewunderung für meine Wahl.
Testgelände Burgund
Natürlich haben kleine Winzereien aber auch ihre Kehrseiten. Ihre finanziellen Mittel sind begrenzt und ihre Bestände kleiner und anfälliger, wenn das Wetter schlecht ist. Sie haben keine alternativen Bezugsmöglichkeiten in anderen Regionen oder Weingütern, wenn ihnen etwa der Hagel ihre Ernte nimmt. Größere Hersteller haben in solchen Situationen mehr Möglichkeiten: Wenn etwas schief geht, haben sie die Ressourcen, auf die Probleme zu reagieren. Diese Anbieter haben in der Regel mehrere Weinberge, mehrere Winzereien und Zugang zu teurer Technologie. Sie können einen Wein herstellen, der von Jahr zu Jahr beständig ist. Anthony Walkenhorst, Winzer bei Kim Crawford in Marlborough in Neuseeland, formuliert es so: „Wir versuchen, die Abweichung so gering wie möglich zu halten.“ Allerdings, fügt er hinzu, „am Ende bestimmt natürlich Mutter Erde“. Kim Crawford ist der erfolgreichste neuseeländische Sauvignon Blanc in den USA. Das Unternehmen produziert rund 1,5 Millionen Kartons pro Jahr. Der Wein ist beständig und mit 14 Dollar die Flasche bezahlbar – und gut gemacht. Er lässt sich auch in Weinläden und Lebensmittelgeschäften gut finden. Ich habe Freunde, die auf diese Marke schwören. Und wie der geschätzte englische Weinautor Hugh Johnson in seinem Buch „Über Wein“ schreibt: „Vielen Leuten eine Freude zu bereiten, ist an sich eine Tugend.“
Maison Louis Jadot steht zwischen den beiden Welten
Das wahre Testgelände für das Duell zwischen groß und klein ist vermutlich das französische Burgund. Diese großartige Region ist die Heimat von einigen der exklusivsten, am meisten nachgefragten Weinen der Welt. Und sie zieht einige der inbrünstigsten Wein-Snobs weltweit an - auch wenn einfache Weine wie der Burgunder mehr als die Hälfte der Produktion dieser Region ausmachen. Der burgundische Hersteller Maison Louis Jadot steht genau zwischen diesen beiden Welten. Sein Kellermeister Frédéric Barnier hat eine eigene Sichtweise auf das Thema klein oder groß. Das Unternehmen verkauft jedes Jahr rund 800.000 Kartons – für die Größenordnungen des Burgunds eine enorme Menge (wenn auch nicht im internationalen Maßstab). Die Palette des Unternehmens reicht von Grand Crus in winzigen Mengen bis zu Massenweinen wie Pouilly-Fuissé und Macon Villages. Die Funktion von Weinen der letzteren Sorte besteht laut Barnier darin, den Weintrinkern, die sonst keine Produkte aus dieser Region kaufen würden, ein „Fenster ins Burgund“ anzubieten. (Die Weine werden in gehobenen Lebensmittelgeschäften und Weinläden verkauft). Kellermeister Barnier arbeitet eng mit Hunderten von kleinen Erzeugern im gesamten Burgund zusammen, um Weine wie seinen Meursault und Pouilly-Fuissé herzustellen und dabei Qualität und Konsistenz sicherzustellen. Als ich vergangene Woche bei einem Weinhändler eine Flasche 2014 Louis Jadot Pouilly-Fuissé kaufte, sagte der Verkäufer: „Jadot ist ein sehr beständiger Hersteller.“ Wenn es um Wein geht, sind große oder kleine Produktionsmengen in Wahrheit unerheblich. Worauf es ankommt, ist die Qualität des Flascheninhalts. Und der weiter oben erwähnte Weinhändler, der nur exklusive Weine verkauft hat, von denen es nur geringe Mengen gibt? Er hat längst aufgegeben und ist nicht mehr im Geschäft.
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