In einem 40-minütigen Livestream im Juni wandte sich Fondsmanagerin Hou Chunyan direkt an die wachsende Zahl der chinesischen Privatanleger. Ihre Botschaft: ESG-Anlagen sind auf einzigartige Weise mit Pekings zunehmenden Anstrengungen vereinbar, CO2-Neutralität zu erreichen und den „allgemeinen Wohlstand” zu fördern.
Der von ihr verwaltete Da Cheng ESG Responsibility Investment Mixed Fund schließt allerdings Kohlefirmen und Spirituosenhersteller nicht aus. Der CSI 300 ESG Leaders Index lässt auch Chemiekonzerne zu. Solar- und Technologieunternehmen, denen der Einsatz von Zwangsarbeit vorgeworfen wird, sind in Chinas wichtigster ESG-Benchmark ebenfalls erlaubt.
Null-Emissionen und die Bekämpfung der Armut sind unter Präsident Xi Jinping Staatsziele der Volksrepublik. Daher trifft das Thema auf fruchtbaren Boden. „Nachhaltige” und „grüne” Fonds schießen wie Pilze aus dem Boden. Nach Bloomberg-Daten wurden in den vergangenen 20 Monaten mindestens 112 solcher Fonds neu aufgelegt dreimal mehr als in den vier Jahren davor. Bei grünen Anleihen ist China bereits einer der größten Emittenten.

Laut einer Umfrage von Fidelity International haben Privatanleger in China mehr Appetit auf ESG-Fonds als in anderen großen asiatischen Märkten. Das im Segment verwaltete Vermögen hat sich seit Anfang 2021 auf rund 50 Mrd. Dollar verdoppelt.
Politische Prioritäten bestimmen ESG-Definition
Was chinesische Vermögensverwalter als „ESG” definieren, orientiert sich dabei eng an den politischen Prioritäten Pekings: dem Netto-Null-Ziel für das Jahr 2060 sowie den Themen Energiesicherheit, Beschäftigung auf dem Land und Armutsbekämpfung.
Allerdings sind von den mehr als 170 in China ansässigen ESG-Fonds laut Bloomberg-Daten etwa 15 Prozent in Kohleunternehmen investiert, die in China die mit Abstand größte Quelle von Treibhausgasemissionen darstellen. Mehr als 60 Prozent halten Beteiligungen in der Stahlindustrie, einem der ganz großen Kohleverbraucher.
„Die Leute sagen ESG, als ob wir uns darauf geeinigt hätten, was es ist – das haben wir aber nicht”, erklärt Bradford Cornell, emeritierter Professor für Finanzwirtschaft an der University of California, der vor kurzem eine Arbeit über ESG-Investments in China geschrieben hat. „In China werden die Regeln für Umwelt- und Sozialfragen von der Kommunistischen Partei Chinas festgelegt.”

Chinas Ansatz demonstriert die universelle Anziehungskraft des ESG-Prinzips, wonach Unternehmen, die Umweltkosten und soziale Risiken berücksichtigen, langfristig höhere Renditen erzielen. Er zeigt aber auch, dass es viel Spielraum bei den anzuwendenden Kriterien gibt – und dass diese durchaus im Widerspruch zueinanderstehen können.
„Ein einheimischer Analyst würde Staatsunternehmen für eine gute Sache halten, während sein Kollege in Europa das als Ausschlusskriterium sehen könnte”, sagt Liu Xiangfeng, dessen in Peking ansässige Firma QuantData auf ESG-Analysen spezialisiert ist. „Da sind Kultur und Ideologie im Spiel.”
Auch Spirituosenhersteller sind ESG-konform
Ein Beispiel dafür ist Kweichow Moutai. Der chinesische Schnapsproduzent hält dank seiner Initiativen für Beschäftigung auf dem Land eine der Spitzenpositionen im CSI 300 ESG Leaders Index, der die 100 in Schanghai und Shenzhen notierten Unternehmen mit den höchsten ESG-Ratings abbildet. Der Konzern China Shenhua Energy, der 78 Prozent seines Umsatzes aus dem Kohlebergbau erzielt, ist eine weitere Top-Holding.
Etwa zehn Prozent der chinesischen ESG-Fonds halten auch Hangzhou Hikvision Digital Technology. Dem Spezialisten für Überwachungstechnologie werden von den USA Menschenrechtsverletzungen gegen muslimische Minderheiten in der Region Xinjiang vorgeworfen. Daher hat Washington das Unternehmen auf seine Sanktionsliste gesetzt. Hangzhou Hikvision bestreitet den Vorwurf.
In Deutschland ist die DWS Group wegen des Vorwurfs des Greenwashing in die Schlagzeilen geraten. Angesichts von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft war der ehemalige Chef der Fondstochter der Deutschen Bank, Asoka Wöhrmann, zurückgetreten.
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