Christian Kirchner ist Frankfurt-Korrespondent von Capital. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Geldanlagethemen. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen
Wer noch Zweifel über den Zustand des Verhältnisses zwischen Bundesbankchef Jens Weidmann und EZB-Chef Mario Draghi hatte, konnte am Montagabend auf dem Neujahrsempfang der Deutschen Börse ein klein wenig Anschauungsunterricht nehmen. Getrennt durch zwei Plätze Sicherheitsabstand saßen die Notenbanker am Tisch Nummer eins direkt vor der Bühne, als Angela Merkel in ihrer Rede die Krisenpolitik von EZB-Notenbankchef Mario Draghi lobte. Kein Wunder: Draghi hat bislang vor allem mit vielen Worten und wenig Geld vermutlich den kriselnden Euro vor dem Kollaps gerettet. Draghi quittierte das Lob mit einem verstohlenen Lächeln. Weidmann hingegen - Gegenspieler Draghis und Gegner von Anleihenaufkäufen - grinste gequält, wann immer die Kanzlerin warme Worte für Draghi und die EZB fand.
Die Zeiten, in denen der Eurozone vor allem mit Worten geholfen werden kann, sind vorbei. Mit einem zeitlich quasi unbegrenzten Programm zum Aufkauf von Staatsanleihen im Volumen von 60 Mrd. Euro pro Monat will die Europäische Zentralbank die Eurozone vor einer drohenden Deflation bewahren, Glaubwürdigkeit beweisen und – obwohl sie das nicht explizit sagt – natürlich auch den Euro weiter schwächen, um damit das Wirtschaftswachstum zu stützen.
Wird ihr dieses Manöver gelingen – oder wird das Programm die Fiskaldisziplin und die Reformbemühungen in den klammen Eurostaaten aushöhlen? Die ehrliche Antwort darauf lautet, dass jede noch so gut begründet klingende These letztlich eine These bleibt und es schlicht niemand mit Bestimmtheit weiß. Wir werden Zeugen und Akteure eines Experiments, in dem der Vergleich mit ähnlichen Experimenten in anderen Industrieländern zu kurz greift.
so sieht hervorragendes Erwartungsmanagement aus
Machen Sie einen einfachen Test: Unterstellen wir, sie hätten bereits gestern einen Blick auf die Details des heute verkündeten Anleihenaufkaufprogramms werfen können – die Höhe (60 Mrd. Euro pro Monat), den Zeitraum (so lange, bis die Inflation wieder steigt), die zu kaufenden Anleihen (Staats- und Unternehmensanleihen mit Laufzeiten von zwei bis 30 Jahren und dabei auch solche mit Negativzinsen) und die Frage der Risikoteilung (ein Fünftel unterliegt der gemeinsamen Haftung, vier Fünftel der jeweiligen Notenbank der Länder). Hätten Sie daraus ableiten können, wie die Finanzmärkte darauf reagieren? Ob der Euro fällt oder steigt, ob die Zinsen noch weiter sinken, die Aktienmärkte klettern, Baugeld billiger oder teurer wird? Vermutlich eher nicht.
Womit wir beim eigentlichen Punkt sind: Es ist gut möglich, dass die Wirkung der Anleihenkäufe zumindest an den Finanzmärkten längst eingepreist ist und wir uns ab sofort wieder ganz neuen Fragen widmen müssen.
Über die vergangenen rund zweieinhalb Jahre hat EZB-Chef Mario Draghi die Eurozone im Allgemeinen und die Finanzmärkte im Besonderen auf die am Donnerstag verkündeten Maßnahmen eingestimmt. Mit einer Rede im Juli 2012, er werde „alles tun, was nötig sei“, um den Euro zu retten, leitete er den dramatischen Rückgang der Zinsen ein. Mit einer weiteren Rede im August 2014 kettete er seine Geldpolitik an die gefährlich sinkenden Inflationserwartungen (welche seit Sommer stark rückläufig sind und größere Aufkäufe immer wahrscheinlich machten). Und er bereitete mit einer weiteren Rede Anfang November die Öffentlichkeit auf den Mindestumfang des Programms zum Aufkauf von Staatsanleihen vor, denn er wollte die Bilanz der Notenbank um mindestens eine Billion Euro ausweiten. Dazu sind die Märkte, in denen die EZB schon jetzt Verbriefungen aufkauft, schlicht zu klein. Deshalb überraschte allenfalls das Volumen, nicht aber die Tatsache des Anleihenaufkaufs an sich - so sieht hervorragendes Erwartungsmanagement aus.
Maßnahmen haben bereits Wirkung gezeigt
Seit dem Sommer 2014 nun sind die Renditen europäischer Staatsanleihen nochmals deutlich gesunken, alleine die zehnjähriger Bundesanleihen um 0,7 Prozentpunkte auf nunmehr 0,5 Prozent. Parallel dazu gab auch der Euro von in der Spitze 1,37 Dollar auf 1,15 Dollar nach, haussierten die Aktienmärkte in Europa um rund zehn Prozent. Schlaraffenland ähnliche Zustände also, die vom sinkenden Ölpreis noch abgerundet wurden.
Das heißt auch: Draghis Maßnahmen haben ihre Wirkungen in Teilen bereits entfaltet, ehe die EZB überhaupt in größerem Umfang aktiv wurde. Vor allem der Rückgang des Euros zum Dollar stärkt die Ausfuhren aus der Eurozone und sorgt dafür, dass in den kommenden Monaten über teurere Importe die Teuerungsrate anziehen dürfte.
Das ist eine Parallele zu den USA, wo es auch nicht die Anleihenaufkäufe selbst waren, die im Zuge von insgesamt drei Programmen seit 2008 die Zinsen bewegt haben. Sondern vor allem die Erwartungen daran. Dazu hat die Société Générale eine Rückrechnung erstellt: Zwischen dem Tag der Verkündung jedes der drei Aufkaufprogramme („QE1“ bis „QE3“) und ihrem Ende sind die Zinsen in den USA gemessen an den zehnjährigen Staatsanleihen nicht etwa gefallen, sondern gestiegen, und zwar jeweils zwischen 0,5 und 0,7 Prozentpunkte.
Vor diesem Hintergrund wäre es also fahrlässig, aus den am Donnerstag beschlossenen Maßnahmen abzuleiten, weiter sinkende Zinsen in der Eurozone, ein schwächerer Euro oder weiter haussierende Aktienmärkte wären bereits ausgemachte Sache. Die Kursbewegungen der vergangenen Monate haben diese Maßnahmen bereits vorweggenommen, fraglich ist allenfalls, in welchem Ausmaß.
Wie werden die Banken mit dem EZB-Geld umgehen?
Nun dürften sich in der Eurozone weniger Menschen um die Wertentwicklung von Aktien, den Euro oder Anleihen sorgen als um die schlichte Frage, welche Implikationen die Maßnahmen auf die Kreditvergabe und die Wirtschaft haben. In dieser Hinsicht täten auch Befürworter des Aufkaufprogramms gut daran, zuzugeben, dass es einen kleinen, aber vermutlich entscheidenden Unterschied zwischen dem Aufkaufprogramm der EZB und jenen anderer Notenbanken in Japan, Großbritannien und den USA gibt: Die Einlagenzinsen für Banken sind derzeit negativ, und die EZB hat sie bei minus 0,2 Prozent belassen.
Das macht das Aufkaufprogramm zu einem Experiment, denn niemand weiß, wie die Banken mit dem vielen Zentralbankgeld umgehen, das sie nun zusätzlich erhalten. In den anderen Ländern konnten die Banken die überschüssige Liquidität stets bei der Notenbank anlegen, vielleicht mickrig verzinst, aber ohne Abzüge. In der Eurozone hingegen wird das Extrageld der Zentralbank, wie es der Ökonom Thomas Mayer in einem Streitgespräch in der aktuellen Capital-Ausgabe sagt, zu heißen Kartoffeln. Die Chefökonomin der Société Générale ging noch weiter und erklärte am Donnerstagfrüh, die Kombination aus Anleihenaufkäufen und dem daraus entstehenden Zentralbankgeld und dem negativen Einlagenzins sei eine „Sondersteuer“ für Banken. Gerade jene Banken sind aber die entscheidende Stelle in Sachen Kreditvergabe. Sie, nicht die EZB entscheiden darüber, ob und zu welchem Zins Firmen in Europa Kredite bekommen, da die Eurozone eine stark bankbasierte Volkswirtschaft ist.
Die psychologischen Folgen der EZB-Maßnahmen sind daher eine große Unbekannte, auch für die EZB, ganz unabhängig davon, ob man das Aufkaufprogramm überhaupt für gerechtfertigt hält oder nicht. Womöglich weiten Banken ihre Kreditvergabe nicht aus, sondern schränken sie ein, um einer sich verschlechternden Ertragssituation zu begegnen. Und wenn der Zinssatz in der Breite unter null Prozent rutscht – animiert das Firmen und Privatpersonen dazu, ihr Geld auszugeben und zu investieren oder erst recht, es zusammenzuhalten? Schließlich muss auch jeder mehr für Altersrückstellungen aufwenden, wenn die Kapitalmarktzinsen nahe null Prozent liegen.
Und wenn die Zinsen für Baugeld weiter in Richtung Nulllinie fallen – motiviert das dann noch mehr Menschen zum Bau oder Kauf eines Eigenheims, oder macht das Menschen irgendwann skeptisch, weil in einer Deflation Schulden plötzlich ständig mehr Wert werden? (Ein Problem, das sich nicht nur einem Häuslebauer, sondern allen Staaten der Eurozone mit kumulierten Staatsschulden von rund 9 Billionen Euro stellt).
Die Befürworter des Aufkaufprogramms haben derzeit die besseren Argumente als Gegner wie Bundesbankchef Weidmann: Die Gefahren liegen derzeit stärker auf der Seite einer drohenden Deflation, nicht einer Inflation. Weshalb die EZB handeln musste. Seien Sie dennoch auf der Hut, wenn Ihnen jemand mit Bestimmtheit sagen will, was die Folgen der dramatischen Maßnahmen sein werden – sowohl für die Finanzmärkte, die Realwirtschaft als auch die Inflationserwartungen oder ganz banal Ihre Anlagestrategie. Das mag eine wenig befriedigende Antwort sein, doch zeigt gerade die jüngste Vergangenheit mit der Aufgabe des Mindestkurses für den Franken, dem erneuten Zinsrutsch und dem Ölpreisverfall, dass Fantasie für unerwartete Dinge mehr nützt als schadet. Das Experiment hat gerade erst begonnen.