Herr Mutschler, Berichten zufolge steckt hinter der zögerlichen deutschen Haltung zu Leopard-Lieferungen an die Ukraine auch die Sorge der deutschen Rüstungsindustrie, dass Lieferungen von europäischen Verbündeten Lücken in die jeweiligen Armeen reißen würden. Amerikanische Waffenhersteller warten demzufolge nur darauf, diese Lücken mit ihren Produkten zu füllen und so in für die Deutschen wichtige Märkte vordringen zu können. Ist das ein realistisches Bild von den Entscheidungsprozessen oder gehört das ins Reich der Verschwörungstheorien?
MAX MUTSCHLER: Das sind Spekulationen. Niemand kann in die Köpfe der Entscheider schauen. Auch ich weiß nicht, wie die unterschiedlichen Motive genau gewichtet werden. Sicher sind die Wünsche der Rüstungsindustrie nicht das Hauptmotiv der deutschen oder amerikanischen Entscheidungen bei der Unterstützung der Ukraine. Aber die Interessen beispielsweise der Panzerhersteller spielen durchaus eine Rolle als einer von vielen Faktoren bei Waffenkäufen und Lieferungen etwa an Kiew.
Wo genau liegen die Interessen der Leopard-Hersteller in der aktuellen Debatte?
Für die deutschen Panzerhersteller ist das Modell des Ringtausches besonders attraktiv. Das heißt, dass andere Staaten vor allem in Osteuropa alte Panzer sowjetischer Bauart in die Ukraine liefern und diese unter anderem von Deutschland mit modernem Gerät ersetzt werden. Dadurch tun sich Chancen für neue Geschäftsbeziehungen auf. Staaten, die bisher noch keine Kunden waren, bekommen Leopard-Panzer und werden dadurch langfristig etwa bei Wartung und Ersatzteillieferungen an die deutschen Hersteller gebunden.
Warum ist die Lieferung von Leopard-Panzern aus NATO-Beständen an die Ukraine dagegen problematisch aus Sicht der Hersteller?
Die Sorge, dass sich dann Lücken auftun, die Konkurrenten nutzen könnten, um den Deutschen Kunden abspenstig zu machen, ist durchaus berechtigt. Wenn Polen jetzt zunächst einen Teil in die Ukraine sendet, dann ist es durchaus möglich, dass das Land als Kunde für die deutschen Hersteller ganz verloren geht. Zumal sich Polen für Kampfpanzer der nächsten Generation bereits für Südkorea als Lieferanten entschieden hat.
Im Zuge der viel zitierten „Zeitenwende“ plant nicht nur Deutschland, kräftig aufzurüsten. Wird nicht die Nachfrage nach Panzern und anderen Waffen die Kapazitäten der gesamten Rüstungsindustrie ohnehin auf Jahre hinaus bei weitem übersteigen? Müssen sich die Unternehmen überhaupt Gedanken um Marktanteile machen?
Kurzfristig nicht. Doch wenn jetzt überall Kapazitäten aufgebaut und die Produktion hochgefahren wird, stellt sich die Frage, wie es in einigen Jahren aussehen wird. Die Verteidigungsetats werden nicht ewig weiter steigen, die Bestände werden nicht unendlich weiter aufgestockt werden. Da fragen sich die Unternehmen schon, wie sie die neuen Produktionskapazitäten langfristig auslasten können.
In der deutschen Industrie hört man oft, dass etwa die amerikanische Konkurrenz von ihrer Regierung stärker unterstützt würde und ihre Interessen mehr Berücksichtigung fänden, während die deutschen Waffenhersteller unter einer restriktiven Rüstungsexportpolitik litten? Sind die deutschen Unternehmen da im Nachteil?
Ich glaube, die deutschen Rüstungsunternehmen machen sich aus taktischen Gründen kleiner, als sie sind. Tatsächlich ist Deutschlands Exportpolitik gar nicht restriktiv – weder die Gesetzeslage noch die Praxis. Die Ampel-Regierung hat sich vorgenommen, das zu ändern. Ich bin gespannt, ob sie das schafft. Oft unterstützt die Regierung die Unternehmen aktiv bei ihren Geschäften: Bei fast jeder größeren Reise einer Regierungsdelegation sitzen Vertreter der Rüstungsindustrie mit im Flieger.
Warum genießt ausgerechnet die Rüstungsindustrie so viel Unterstützung?
An ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung liegt es jedenfalls nicht. Kriegswaffen machten in den vergangenen Jahren gerade einmal 0,1 Prozent der deutschen Exporte aus. Mit ca. 55.000 Mitarbeitern ist die Branche auch für den Arbeitsmarkt nicht zentral. Aber zum einen sind die Unternehmen teils konzentriert in einigen Regionen angesiedelt – beispielsweise die Werften an der Küste – und werden als regional wichtige Wirtschaftsfaktoren dort von den Landesregierungen und den Wahlkreisabgeordneten im Bundestag stark unterstützt. Vor allem aber ist die Rüstungsindustrie auch ein Machtinstrument. Heimische Waffenlieferanten machen ein Land unabhängig und geben einer Regierung Macht über deren Kunden im Ausland. Das kann man jetzt beobachten, wenn Polen und andere Länder auf eine Entscheidung der deutschen Regierung warten müssen, ob sie Leopard-Panzer weitergeben dürfen.
Dieser Artikel ist zuerst auf ntv.de erschienen.