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Interview Warum wir für den digitalen Wandel vom Sofa aufstehen müssen

Verena Pausder
Verena Pausder
© Kim Keibel
„Corona ist der größte Digitalisierungsschub, den dieses Land sich hätte vorstellen können“, sagt die Digital-Expertin Verena Pausder. Capital sprach mit ihr über ihr Buch „Das neue Land“ und über die Frage, wie es nach der Krise weitergeht

Verena Pausder gilt als eines der bekanntesten Gesichter der Gründerszene. Sie ist Expertin für Digitale Bildung, Gründern von Fox&Sheep und die Haba Digitalwerkstätten. 2016 wurde sie vom Weltwirtschaftsforum zum „Young Global Leader“ ernannt. 2018 nahm sie das US-Wirtschaftsmagazin Forbes in die „Europe’s Top Women In Tech“-Liste. Das Handelsblatt und BCG kürten sie zur Vordenkerin 2020.

Capital: Die Frage, wie es nach der Corona-Krise weitergeht, wird viel diskutiert. Ein Entwurf wäre das „neue Land“. Wie sieht dieses Land aus?

VERENA PAUSDER: Das neue Land ist eigentlich eine Metapher dafür, alte Glaubenssätze zu überdenken und Themen neu anzugehen. Also, wie können wir gemeinsam für etwas sein, anstatt gegen etwas? Wie können wir uns Lösungen überlegen anstatt nur die Probleme zu beschreiben? Mit dem Neuen Land ist also ein Mindset gemeint, in dem wir uns weniger gegenseitig angehen, sondern ermutigen. Es ist aber auch physisch gemeint, indem wir es in allen Bereichen denken. Es soll uns die Chance geben, diese Krise so zu sehen, dass wir unsere Energie nicht darauf verwenden, das Gestern wieder aufzubauen, sondern etwas zu ändern, was wir schon lange verändern wollten.

Welche Versäumnisse hat die Krise denn offen gelegt?

Das allergrößte Versäumnis ist Digitalisierung. Das kann man dann auf verschiedene Bereiche übertragen, sei es die Bildung oder sei es das Gesundheitssystem oder die Verwaltung. Corona ist sicherlich der größte Digitalisierungsschub, den dieses Land sich hätte vorstellen können – und den es so dringend gebraucht hat. Denn wir haben zwar die Erkenntnisse, aber wir haben bisher zu wenig umgesetzt. Corona ist da wie ein Brennglas. Wir sehen diese Probleme, sie betreffen uns unmittelbar und wir erkennen ihre Dringlichkeit und Wichtigkeit an – und das ist neu.

Warum ist Deutschland in Sachen Digitalisierung so langsam, wenn ihre Chancen schon längst bekannt sind?

Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns einig sind, dass die Digitalisierung eine Chance ist. Ich glaube, dass diejenigen, die zur vermeintlichen Elite gehören, vielleicht wissen, dass Digitalisierung das Leben vieler Menschen besser machen kann. Aber in der breiten Masse haben wir damit bisher keinen guten Job gemacht. Man kann sehr positive Bilder von der Zukunft zeichnen und klar sagen, wofür die Digitalisierung steht oder man kann es bei einem Sturm aus Buzzwords belassen, der selbst Leute überfordert, die sich viel mit dem Thema beschäftigen.

„Das neue Land“ ist am 8. September im Murmann Verlag erschienen
„Das neue Land“ ist am 8. September im Murmann Verlag erschienen

Also hat Digitalisierung in Deutschland ein Imageproblem?

Total, wobei Imageproblem danach klingt, als ob man es nur anders präsentieren müsste. Aber die Digitalisierung ist ja eine der größten Umwälzungen dieser Zeit. Und wenn man in einer solchen Phase im Auge des Sturms ist, dann ist es auch klar, dass sich dieser Wandel nicht immer nur gut anfühlt. Für viele heißt das, Abschied von dem was sie kennen. Deshalb muss man sensibel mit den Ängsten der Menschen umgehen, aber indem man verständlicher macht, worum es da eigentlich geht.

Wie schnell sich Dinge wandeln, zeigt auch die Pandemie. Welche positiven Entwicklungen hat Corona hervorgebracht?

An allererster Stelle muss man da die Schule und das Schulsystem nennen. Wir hatten schon vor Corona den großen Nachteil, dass wir viele Kinder gar nicht erreicht haben, weil sie nicht die richtige Infrastruktur zu Hause hatten oder weil ihre Lehrer nicht richtig ausgebildet waren. So schlimm das war, so sehr hat Corona dazu geführt, dass man mittlerweile ein viel größeres Gespür dafür hat, wie groß die Schere zwischen arm und reich bereits ist und wie viel größer sie noch werden kann. Es ist also eigentlich eine negative Erfahrung, hat aber einen positiven Effekt. Denn plötzlich kümmert sich die Kanzlerin um die Digitalisierung unserer Schulen.

Jetzt da die Probleme erkannt sind. Welche nächsten Schritte braucht es?

Kurz zusammengefasst wären vor allem drei Schritte wichtig: Die Hilfestellung bei der Ausschüttung der Gelder aus dem Digitalpakt für die Digitalisierung der Schulen, eine größere Zentralisierung der Schul-Cloud, was die Organisation und nicht die Inhalte angeht und die Fortbildung von Lehrern bei der Arbeit, damit sie mit der Situation umgehen können.

Wie schnell wird sich das umsetzen lassen?

Das wird schon ein dickes Brett. Wir reden hier vermutlich über eine der größten Weichenstellungen unseres Landes, weil es so viele Menschen betrifft. Aber vielleicht ist das auch die Lebensaufgabe zumindest meiner Generation dieses Brett zu bohren. Und wenn die Politik das nicht alleine kann, dann ist es unsere Aufgabe sie dabei zu unterstützen und gemeinsam Lösungen zu finden. Wenn Corona eins bewirkt hat, dann, dass wir gemerkt haben: Am Ende ist es unser Land. Und wir können uns dafür entscheiden, es voranzubringen oder wir müssen uns damit abfinden, dass wir abgehängt werden.

Der Wirtschaft kommt dabei eine größere Rolle zu. Was muss sich dort verändern?

Ein Teil kommt der Finanzierung von Innovationen und neuer Technologie durch Venture Capital zu. Um die Kraft von Venture Capital voll zu entfalten, müssen wir neues Geld verfügbar machen für Innovation und Fortschritt. Unsere Pensionskassen dürfen in diese Asset-Klassen aktuell nicht finanzieren. Das führt dazu, dass wir die Frühphase und vielleicht noch die Anschlussphase von neuen Unternehmen gut finanzieren, aber dann steigen viel größere ausländische Fonds ein und nach und nach kommt es zum Talent drain. Es braucht deshalb Fonds, die immer noch von Profis aus der Privatwirtschaft geleitet, aber mit staatlichen Geldern unterstützt wird, damit diese Fonds größer werden. Das ist die Voraussetzungen dafür, dass wir mehr in Innovationen und Nachhaltigkeit investieren – und dann auch davon profitieren, dass wir in diesen Feldern eigene große Unternehmen haben.

Auch bei Gründungen hält Deutschland sich zurück. Haben wir ein Gründungsproblem?

Ein totales Gründungsproblem. Wir haben eine rückläufige Gründungstätigkeit seit Erhebung dieser Zahlen – und zwar jedes Jahr. Sei es, dass wir Risiken nicht so gerne mögen, oder dass es uns mit Blick auf unseren wirtschaftlichen Wohlstand zu gut geht, oder dass wir nicht genug für das Unternehmertum ausbilden und Kapital bereitstellen. All das führt dazu, dass wir zu wenig Unternehmertum in diesem Land haben und es auch zu wenig feiern – und das strahlt ab. Wir müssen auch da viel breiter auf die positiven Seiten des Unternehmertums aufmerksam machen.

Wäre Corona da ein Anlass?

Absolut, es herrscht gerade eine Zeit, in der viele Geschäftsmodelle auf dem Prüfstand stehen. Wir können versuchen, sie zu retten oder versuchen, sie in die Zukunft zu bringen. Das muss nicht alles nur der Verlust von etablierten Formaten sein, sondern es kann auch der Gewinn von neuen sein – auch wenn wir uns an sie vielleicht noch ein bisschen gewöhnen müssen.

Welche Themen sollten denn auf dem Weg zum „Neuen Land“ zuerst angegangen werden?

Die Themen, die am längsten dauern, also: umfassender Klimaschutz, Bildung, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz. All diese Themen kann man nicht einfach über Nacht umsetzen. Sie auf die lange Bank zu schieben, würde die richtig lange Bank.

Wie hoch ist das Risiko, dass man nach der Krise wieder in alte Muster verfällt?

Das ist eine riesengroße Gefahr bei diesen Themen, vor allem, wenn sie uns nicht unmittelbar im eigenen Alltag betreffen – und dann auch der Druck auf die Politik abnimmt. Deswegen brauchen wir ein neues Grundverständnis davon, Themen auf der Agenda zu belassen und sich selbst zu engagieren. Denn es ist unfair, die Lösung dieser Probleme nur den Politikern zu überlassen. Das heißt aber nicht, dass wir jetzt alle in Aktionismus verfallen sollen, sondern anstatt vom Sofa aus zu kritisieren, sollten wir von diesem Sofa aufstehen und fragen: Wie kann ich hier helfen? Und wir haben noch nicht genug versucht, von diesem Sofa aufzustehen.

Was würden Sie denjenigen entgegen, die bei der Umsetzung der großen Themen auf die Kosten verweisen?

Wir setzen gerade so viel Geld ins System. Und die Frage ist: Machen wir das nur für kurzfristigen Konsum oder machen wir das auch für langfristige Investitionen? Bisher haben wir viel zu wenig die Investitionsseite gesehen. Gerade die Bereiche, wo wir etwas aufbauen, sollten da in den Fokus rücken. Ein Beispiel wäre eine Innovationsabgabe – die man natürlich als Vermögenssteuer missverstehen kann. Das ist sie aber eben nicht. Denn wir sind über das Steuergeld immer an den Verlusten von Unternehmen beteiligt. Aber warum sind wir nicht auch mal an den Chancen beteiligt? So heilen wir nicht das Land aus der Mitte, sondern wir retten es nur über die Zeit.

Wie weit ist das „neue Land“ denn noch weg?

Zum Teil müssen wir es einfach betreten, weil schon alle Antworten auf dem Tisch liegen und wir schon wissen, wie die nächsten Schritte aussehen zum Beispiel bei Diversität in Unternehmen oder beim Klimaschutz. Zum Teil müssen wir aber erstmal einen Eingang oder eine Brücke bauen, weil wir einfach noch eine Weile brauchen, bis zum Beispiel die Schulen digitalisiert sind. Aber der Spirit des neuen Landes ist, dass wir es uns zutrauen und es wollen – und nicht dass wir dagegen angucken, in Angst erstarren und es uns eigentlich wieder wegwünschen.

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